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Die Küste im Nebel

Jahrelang stellt man sich vor, am Mittelmeer zu sitzen und aus kleinen Gläsern einen mit Wasser verlängerten, milchigen Aperitif zu trinken. Es könnte ein Pastis, ein Pernod, ein Ouzo, ein Raki sein. Wohl jedes Land am Nordrand des Mittelmeeres hat seinen Aperitif mit Anisgeschmack. Man stellt sich vor, auf das Meer zu schauen und ab und zu ein Wort mit seiner jeweiligen Begleitung zu wechseln. Nichts muss getan oder gedacht werden. Das perfekte Hier und Jetzt.

Wenn man viele Jahre an der Ostsee lebt, heißt es eher: Lass uns ans Wasser gehen. Zu jeder Jahreszeit läuft man am Wasser entlang. Und häufig hört man sich als Zugezogene den einheimischen, holsteinischen Blues an. Was bedeutet im Blueszustand Westküste? Man versucht zu verstehen. Der Blues handelt vom Sturm an der Westküste, und davon, dass man endlich mal richtigen Wind spüren möchte. Durchgepustet möchte man werden. Der Kopf soll frei werden. Für den Sturm wird der Troyer bis zum Hals hochgezogen, der gelbe Friesennerz zugezogen, es wird in die Gummistiefel hineingestiegen und raus in den Sturm. Man stemmt sich gegen den Wind und kommt voran, aber langsam. Das gehört dazu. Irgendwann zieht sich der Wind zurück. Nun wird der Wunsch nach  einem Grog, Köhm oder ein Tee mit Kluntjes laut.  Man hört auch von den SpaziergängerInnen das Wort Küstennebel.  Eine Ahnung kommt hoch. Der Küstennebel muss etwas Trinkbares sein. Küstennebel hört sich an wie ein herber Schnaps von der nordfriesischen Westküste. Ich habe ihn nie probiert.

Viele Jahre später in Ostfriesland: Man fährt rechts der Ems durch flaches Land, die höchste Erhebung ist das Kernkraftwerk Emsland in Lingen. Die Stadt Emden, zwar Handelszentrum und einen Hafen besitzend, lädt nicht ein zum Verweilen, wenn sie auch berühmt ist durch Otto Waalkes, dem Komiker. An der ostfriesischen Nordseeküste angekommen, in einem Hotel mit Blick auf einen 10 Meter hohen Deich. Der Deich ist begrünt und auf der Seeseite mit breiter Asphaltstraße versehen ist. Wie an der nordfriesischen Küste kaum Bäume, keine Dünen, braunes Wattenmeer und Straßendörfer.

Abends im Hotel entdecke ich den Küstennebel auf der Getränkekarte. Bilder aus aus den Jahren in Holstein ziehen am Erinnerungshorizont auf. Na, jetzt probier ich ihn mal, den Küstennebel. Milchige zwei Zentiliter werden serviert. Ich schmecke und stutze. Nicht die Erinnerung an die nordfriesische Westküste steigt beim Schmecken hoch, ein Bild des Mittelmeeres ist vor meinem inneren Auge. Wie kann das sein? Der Küstennebel schmeckt nach Anis wie der Ouzo, der Pernod, der Pastis, der Raki. Er schmeckt nach Mittelmeer. Eine Ahnung wird Gewissheit. Jahrelang habe ich den Küstennebel vermieden, in der falschen Vorstellung, dass es ein herber, nordfriesischer Kümmelschnaps ist. Nein, es ist ein leichter, milchiger nach Anis und Mittelmeer schmeckender Likör. So viele Jahre habe ich im Falschen gelebt. Wozu an das Mittelmeer reisen, wenn es auch heimischen Anisschnaps gibt? CS

Photo: Catherina Stauch