C_ the Unseen – neue Bilder in den Kopf

Chemnitz_die Ungesehene, dieses Motto passt tatsächlich. Wer kennt diese Stadt? Liest man sich den wikipedia Artikel über Chemnitz durch, staunt man, welche Bedeutung diese Stadt als Industriestandort über Jahrhunderte hatte.  Auch die Nähe zum Erzgebirge war für Chemnitz während der letzten Jahrhunderte bedeutend. Und wer war schon in Chemnitz? Den Namen Chemnitz kennt man. Karl-Marx Stadt hieß Chemnitz zu DDR-Zeiten. 1990, also nach der Wende

wurde die Stadt zurückbenannt. 

Die wichtigsten Produkte aus Chemnitz waren Lokomotiven und Textilmaschinen. Man sagte, in Chemnitz wird gearbeitet und produziert,  in Leipzig gehandelt und in Dresden wird der Gewinn verprasst. Selbst als Westdeutsche weiß ich, dass Leipzig bekannt ist für seine Messen und Dresden für seinen Barock. Aber Chemnitz? Also los zu C_the Unseen, nach Chemnitz, die europäische Kulturhauptstadt 2025.

Alte Bilder im Kopf

Wer nicht regelmäßig in die östlichen Bundesländer dieser Republik fährt, hat die Veränderungen der letzten Jahrzehnte nicht wahrgenommen. Man hat noch das Bild der grauen, nicht renovierten Häuser in den Dörfern und der löchrigen Fassaden der Miethäuserreihen, erlitten durch die Kampfhandlungen des zweiten Weltkrieg im Kopf. Man denkt an holprige Autobahntrassen. Meine inneren Bilder ostdeutscher Städte zeigen mir wenig Buntheit, wenig Lebensfreude in den Gesichtern, wenig Tanz, wenig Kunst, wenig Experimentierfreude im Straßenbild. Aber ich reise wenig. Ich habe die Veränderung der letzten zwei bis drei Jahrzehnte nicht erlebt. Auch Menschen aus dem Westen, die in den ersten Jahren nach der Wende 1989 in die neuen Bundesländer gereist sind, haben ein graues Chemnitz im Kopf. ChemnitzerInnen selbst erinnern sich an eine dachlose St. Jacobi Kirche in der Innenstadt. Viele Jahre musste diese Kirche ohne Dach leben, erzählen sie.

Neue Bilder in den Kopf

Schon die Hinfahrt durch Thüringen mit Stippvisite in Weimar war eine schöne Überraschung. Hügelige grüne Landschaften, vollständig renovierte Häuser, gute Straßenverhältnisse. Ich kannte die ländliche Gegend des Ostens nicht. Zwei Stunden in Weimar: Intakte Häuserzüge, grüne Plätze, die Wohnhäuser unserer „Nationalheiligen“ Goethe und Schilder und auch heilig: „In diesem Hause gab sich das deutsche Volk durch seine Nationalversammlung die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919″. Eine Verfassung auch für Frauen. Das Frauenwahlrecht wurde einführt. „Weimar, I`ll be back…“

Und dann Chemnitz: Der erste Eindruck war: die Stadt ist grün. Das wurde von einer seit 20 Jahren in Chemnitz lebenden Einwohnerin vehement bestätigt. Parks, Gärten und Anlagen unterbrechen den städtischen, steinernen Eindruck. Sie laden zu städtischer Erholung im grünen Schatten ein. Breite Straßen, renovierte Häuserfassaden, interessante Skulpturen, viele Sitzplätze, viel Außengastronomie, blühende Kirschbäume, renovierte Industriebauten. Bürgerhäuser und viele Hinweise auf Museen, Sportstätten, Hochschulen, Krankenhäuser sehen wir vom städtischen Bus aus. Die berüchtigten Plattenbauten, die es durchaus auch im Westen der Republik gibt, haben ebenerdig Geschäfte und Restaurant. Zwischen den Riegeln der Wohnblöcke sind Parks angelegt. Alles wirkt bewohnt. Man schlendert auf breiten Bürgersteigen, in breiten Fußgängerzone, trifft immer wieder auf große und kleine Plätze mit einladenden, bunten Sitzplätzen, die eine angenehmerGepflegtheit ausstrahlen. Man möchte flanieren.

Die alten Bilder einer alten grauen „Oststadt“ sind hinfällig. Chemnitz ist attraktiv. Attraktiv durch die Menschen, attraktiv durch städtische Gestaltung des öffentlichen Raumes. Viermal wurden wir in 24 Stunden angesprochen: „kann ich Ihnen helfen?“ Und hieraus ergaben sich freundliche und informative Gespräche.

Chemnitz C the Unseen. Wer hat sich diesen genialen Titel ausgedacht?

Wie schreibt man über Menschen, wenn man die Menschen nicht kennt? Man kann doch nicht über einen Menschenschlag schreiben, oder? Wenn ich über meinen eigenen Menschenschlag schreibe, sind es subjektive Erfahrungen. Schreibe ich  über einen anderen Menschenschlag,  sind es Zufälle, die die Beschreibung färben. Über „die Italiener“ oder „die Spanier“ spricht man und schreibt man. In der Regel sind es aus deutscher Sicht positive Stereotype, die man nutzt, um die Menschen vom Mittelmeer zu beschreiben.

Aber über einen Menschenschlag in Deutschland zu schreiben, dessen Stadt ich nur 2 Tage besucht habe? Geht das? Wenn mich Menschen in einer fremden Stadt ansprechen und fragen, ob sie mir helfen können und das mehrfach passiert, hinterlässt es gute Gefühle für die mir unbekannte Stadt. Man bekommt ein Bild der Stadt hierdurch. Wenn ich mich erfreut über eine Stadt äußere, in der ich zu Besuch bin, hinterlasse auch ich Spuren bei den EinwohnerInnen. Ich dachte, nur in Italien kann man sich mit unbekannten Menschen unterhalten. Nein, das geht auch in Chemnitz in höchst interessanter, amüsanter und ungeplanter Weise. Zum Beispiel der Rote Turm, wurde uns erzählt, dient als Vorbild für die Form eines Geschirrspülmittels, namens Fit. Der Rote Turm stammt aus dem 12. Jahrhundert und steht heute isoliert zwischen Bauten aus dem 20. Jahrhundert. Die Innenstadt von Chemnitz wurde zu 80 % im 2. Weltkrieg zerstört. Das archäologische Museum sei sehr informativ, man habe die Ausstellungsfunde aus anderen sächsischen Städten übernommen, erzählten mir die Straßenbekanntschaften aus Chemnitz. Nicht nur Dresden muss alle Ausstellungsfunde haben, sagte man, auch Chemnitz soll Exponate haben. Man spürt die unterschwellige Konkurrenz zu Dresden.

Die ChemnitzerInnen

Sie haben sich etwas einfallen lassen. Zum Beispiel die Chemnitzer Garagen. Das soziale Miteinander in der Karl-Marx Stadt der DDR spielte sich in jener Zeit auch in Garagen ab. Die ChemnitzerInnen haben sich daran erinnert und diese sozialen Räume für die Europäische Kulturhauptstadt zugänglich gemacht. Vieles geschah in den Garagen. Es gebastelt, repariert, gegrillt und gesprochen. Die ehemaligen Sterngaragen von 1928 sind erhalten. Der Garagenhof Harthweg steht inmitten von Schrebergärten, und Tennisclub. Grasgrüne Trichter weisen den Weg in diese Garagenwelten.

Für die europäische Kulturhauptstadt wurden sogenannte Interventionsfläche geschaffen. Unter großer Bürgerbeteiligung wurden Brachflächen oder unbeachtete städtische Räume wieder nutzbar gemacht. 8 Bürgerplattformen erhielten jeweils 325 000 Euro. Mit diesem Geld sanierten sie Vereinsräume, gestalteten Parks oder Spielplätze. Auch der Marktbrunnen „Manifold“ von Daniel Widrig, einem Stapel ungleich großer Unterlegscheiben aus Stahl ähnlich sehend, war Teil dieser Projekte. Dieser Brunnen steht vor dem Rathaus. Der Gegensatz zur eher abstrakten Kunst bildet der riesige Kopf von Karl Marx vor einem Plattenbaublock. Die Größe dieses Kopfes wirkt ironisch. Im Park vor dem Kopf fast ein wenig peinlich anzusehen im Zeitalter der Inklusion und Diversität: Die skulpturale Darstellung überlebensgroßer, sehr gesunder Körper mit dem Titel: Würde, Schönheit und Stolz des Menschen im Sozialismus (von Gerd Jaeger, 1974). Hinter dem „Nischel“, dem Karl Marx Kopf höre das öffentliche Leben auf, sagte man uns. Hinter diesem Häuserblock sei keine positive, menschliche Belebung gelungen. The Unseen?

2025 zählt Chemnitz circa 240 000 EinwohnerInnen. Müsste ich mich zwischen Städten von ähnlicher Einwohnerzahl wie Kiel oder Kassel entscheiden, würde ich mich wahrscheinlich für Chemnitz entscheiden. Es gibt so viele Initiativen der ChemnitzerInnen, dass man stündlich neugieriger wurde zu erfahren, was noch alles geschaffen worden ist und wie gelebt wird.

„Ich denke immer an den Himmel, den ich über mir sah als ich nach Chemnitz zog und in die Jacobikirche ging“ sagte eine Einwohnerin. Die durch Bombardierung beschädigte St. Jakobikirche hatte über Jahrzehnte, auch nach der Wende, kein Dach. Die Säulen der Gewölbe lagen herum. Jetzt ist sie renoviert und dient als Kulturstätte für Konzerte, Ausstellungen, Gebete, Gottesdienste. Chemnitz, ich komme wieder. 48 Stunden waren viel zu wenig. Aber für einen höchst positiven Eindruck hat es gereicht. „it is not the Unseen anymore…“.

CATHERINA STAUCH PHOTO CATHERINA STAUCH (aus dem Hartmanngebäude heraus fotografiert)

Zum Weiterlesen

www.wikipedia

www.chemnitz.de/interventionsflaechen

www.parcours.chemnitz2025.de

www.garagen-campus.de/campusgeschichten




Gefühle für das Grundgesetz

Langsam liefen die Texte ausgewählter Artikel des Grundgesetzes über die große Leinwand. Es war zum Mitlesen. Man fühlte sich wohl in dem Kontrollraum des Wunderland Kalkar.

Man fühlte sich wohl, wenn auch etwas überrascht. Eine solche Einleitung zu einer politischen Diskussionsveranstaltung hatte man noch nicht erlebt. 50 Menschen lasen die Texte zusammen. Es war genügend Zeit, um die Paragrafen zu lesen. Die Texte waren unterlegt mit einer angenehmen, etwas einschmeichelnden Hintergrundmusik.

Es wurden neun Artikel des Grundgesetzes präsentiert. Eine Auswahl aus den ersten neunzehn Artikeln des Grundgesetzes, den sogenannten Grundrechten wurde präsentiert. Die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes, die Grundrechte, sind Abwehrrechte von Menschen gegenüber eines möglicherweise übergriffigen Staat: sie betreffen die Würde des Menschens, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Meinungsfreiheit, die freie Berufswahl, die deutsche Staatsangehörigkeit, (§1, 2, 3, 5, 12, 16a,18). Die dargestellten Paragrafen 20 und 21 betreffen die Staatsform der Demokratie selbst sowie die Rolle von Parteien.

Das Ehepaar Judith Bernhard-Heenen, Rechtsanwältin und Günter Heenen, Steuerberater aus Kleve hatte am 20. Februar zu einer Informationsveranstaltung mit Ralph Sina eingeladen. Ralph Sina ist Journalist. Er berichtete u.a. jahrelang für den Hörfunk des WDR aus Brüssel und war auch Korrespondent in den USA in der Obama Ära. Die Veranstaltung fand im ehemaligen Schnellen Brüter statt, der nach massiven Protesten aus der Bevölkerung in den 80-ziger Jahren nie in Betrieb genommen worden war.

Vor der Bundestagswahl

Es war drei Tage vor der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 und 28 Tage nach einem von mehreren Anschlägen in Aschaffenburg am 22. Januar 2024. In Aschaffenburg hatte ein Mann ein Kind und einen Mann erstochen. Es war 27 Tage, nachdem Merz infolge dieser Anschläge sehr markig sagte: „Ich werde am ersten Tag meiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen“.

Er brachte kurzfristig mit der CDU/CSU Fraktion einen sehr umstrittenen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz. Es war klar, dass dieses Gesetz nur mit Hilfe der AFD hätte verabschiedet werden können.

Schon im gesamten Jahr 2024 hatte es große Demonstrationen in ganz Deutschland gegeben. Sie waren entstanden, nachdem bekannt geworden war, dass die AFD in einem geheimen Treffen eine große Rückführung von MigrantInnen plante, der sogenannten „Remigration“. In Folge all dieser Vorgänge war es in ganz Deutschland kurz vor der Bundestagswahl am 23. Februar erneut zu sehr großen Demonstrationen gegen rechts gekommen. Auf der Theresienwiese in München demonstrierten am 8. Februar über 200 000 Menschen (nach Polizeiangaben). Auch im Kreis Kleve gab es in mehreren Städten Demonstrationen. Das Zustrombegrenzungsgesetz scheiterte im Bundestag am 31. Januar. Nicht alle CDU-Bundestagsabgeordneten hatten zugestimmt. Und am 21. Januar 2025 war Donald Trump zum zweiten Mal als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden.

Inspiriert durch ein Banner an einer Sparkasse (siehe Beitragsphoto) hatte das Ehepaar Bernhard-Heenen/Heenen eine Informationsveranstaltung organisiert. Auf dem Podium saßen Barbara Hendricks, ehemalige Bundesumweltministerin (SPD), Freddy Heinzel, Rechtsanwalt und Honorarkonsul in den Niederlanden sowie Oliver Locker-Grütjen, Präsident der Hochschule Rhein-Waal.  

Die amerikanische Verfassung ist veraltet

Ralph Sina erläuterte in seinem Impulsvortrag die verfassungsbedingten Gründe, die zum Wahlsieg von Donald Trump geführt hatten. Er beschrieb diese aus der Gründungszeit der USA stammende Verfassung als vordemokratisch. Nicht die absolute Zahl der Wählerstimmen bestimme, wer gewinne. Hierfür gebe es verschiedene Gründe. Dies liege zum einen an dem sogenannten electoral college, der Wahlversammlung. Diese hat 538 Wahlleute. Die Stimmen Wahlmänner in den Bundesstaaten werden nicht proportional zu den Wählerstimmen verteilt. Nur die Gewinner haben eine Stimme. Wer 270 Wahlleute hat, hat gewonnen. Dies spiegelt nicht das Verhältnis der abgegebenen Stimmen. Zum anderen liegt es an der Zahl der Senatoren. Jeder Bundesstaat, egal wieviel EinwohnerInnen er hat, entsendet zwei Senatoren nach Washington. Beispielsweise entsende Wyoming mit circa 500 000 EinwohnerInnen zwei Senatoren in den Senat nach Washington. Kalifornien mit circa 39 Millionen EinwohnerInnen habe ebenfalls zwei SenatorInnen. Dies führe zu einer massiven Überrepräsentanz der konservativen ländlichen Bevölkerung in Washington. Zudem würden die Bundesrichter (supreme court) auf Lebenszeit gewählt. Auch Krankheit wie beispielsweise Demenz führe nicht zu Amtsentfernung. Immer wieder bezog sich Ralph Sina auf das Buch „Tyrannei der Minderheiten“ von Levitsky/Ziblatt. Die veraltete US-Verfassung begünstige die Tyrannei der Minderheiten. Die absoluten Zahlen der Wählerstimmen seien nicht entscheidend. Wenn die RichterInnen sehr alt würden, würde eine veraltete Rechtssprechung verstetigt.

Zusammenfassend sagte Ralph Sina, dass zu den Prinzipien der Demokratie gehöre, eine Niederlage zu akzeptieren und der Gewalt zu entsagen. Dies sei nicht geschehen unter Trump. Ermutigend sei jedoch, dass die US-AmerikanerInnen Europa und Deutschland sehr genau beobachteten. Die Demonstrationen gegen rechts und die Meinungsäußerungen in Europa würden wahrgenommen.

Bei der Podiumsdiskussion fügte Barbara Hendricks einen weiteren Punkt zur Verfassungsproblematik bei den US-Wahlen hinzu. Der Zugang zum Mandat in den USA sei sehr schwierig. Die Notwendigkeit Spenden einzusammeln binde sehr viele Kräfte, sodass ein Wahlkampf mit Sachthemen vor Ort fast unmöglich sei. Dieser Druck verführe auch zu Zugeständnissen gegenüber den SpenderInnen.

Ein anderes erstaunliches Beispiel aus dem europäischen Staatenverbund einer verfassungsbedingten fehlenden Repräsentanz der Bevölkerung wurde am Beispiel der Niederlande erklärt. Das Land gilt als liberal. Jedoch träten für die 20 niederländischen Wahlkreise jeweils die gleichen Personen einer Liste an. Auf diese Weise sei auch die ländliche Bevölkerung im niederländischen Parlament unterrepräsentiert, erklärte Freddy Heinzel. Hierauf führte er auch die Bauernproteste zurück. Die Bauernschaft fühlte sich nicht repräsentiert im Den Haager Parlament.

Nach der Bundestagswahl

Die CDU/CSU sind am 23. Februar als stärkste Parteien aus der Wahl hervorgegangen. Trotzdem nutzten sie das Oppositionsinstrument der kleinen Anfrage an die amtierende Regierung. Am ersten Tag nach ihrem guten Abschneiden in der Bundestagswahl stellte die CDU/CSU Fraktion eine kleine Anfrage an die Regierung zur Finanzierung der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die zu den Demonstrationen aufgerufen hatte. 551 Fragen wurden gestellt.

 Misstrauen gegen die DemonstrantInnen

Relativ fassungslos starrte die Öffentlichkeit auf diese Aktion der Wahlsieger. Man konnte dies nur als Misstrauen gegenüber den DemonstrantInnen werten. Mit dieser kleinen Anfrage wurde die Meinungsfreiheit der Demonstrantinnen und Demonstranten in Frage gestellt. Die mehrfach angegriffenen Omas gegen rechts dürften diese Aufmerksamkeitsart der CDU/CSU als Kompliment sehen. Die doch recht männerlastige christliche Parteienfamilie muss zur Kenntnis nehmen, dass die Omas gegen rechts eine Wirksamkeit in der Gesellschaft entfalten.

 Es ist bedauerlich, dass die Verfasser und Verfasserinnen der kleinen Anfrage keine positiven Gefühle gegenüber den Demonstrierenden hatten. Hunderttausende von Menschen nutzten eindrucksvoll ihre Grundrechte, die sie als BürgerInnen einer modernen verfassten Demokratie in Deutschland haben. Sie nutzten Ihr Recht der freien Meinungsäußerung nach § 5 des Grundgesetzes und der Versammlungsfreiheit auch § 8 des Grundgesetzes. Und sie zeigten sehr deutlich, wie wichtig ihnen Demokratie ist.

Diese Vorgänge bewegen viele Menschen in Deutschland. Die Menschen in der CDU hätten stolz sein können auf die Demonstrierenden. Sie hätten stolz sein können auf die gute Verfassung des Grundgesetzes in der Bevölkerung. Hätten die Menschen in der CDU die Demonstrationen gegen rechts als gelebtes Grundgesetz wahrgenommen, wären sie nicht auf die Idee gekommen, den zivilgesellschaftlich engagierten Menschen mit solch großem Misstrauen zu begegnen. Nicht anders kann die kleine Anfrage an die Regierung, offensichtlich langfristig vorbereitet, interpretiert werden. Haben die Menschen in der Bundestags-CDU kein Gefühl für ein Leben mit dem Grundgesetz?

Emotionale Bindung an das Grundgesetz

Das Grundgesetz zu verbinden mit Gefühl eines gemeinsamen Erlebnisses ist ein überraschender Ansatz. Das gemeinsame Erleben durch die Lektüre des Grundgesetzes, unterstützt durch eine entspannende Musik ist ein guter Zugang. Es unterstützt ein kollektives und ein individuelles Gefühl, Bindung an unsere Verfassung zu entwickeln. Das gibt emotionalen Rückhalt, wenn Aggressionen gegen die Demokratie drohen, zu ohnmächtiger Verzweiflung zu führen.

Eine gute Idee des Ehepaares.

CATHERINA STAUCH öffentliche Kommentare können auf  https://mastodon.social/@Ansichten eingefügt werden.

PHOTO CATHERINA STAUCH  Dargestellt ist die Sparkasse Rhein-Maas in der Hag`schen Straße in Kleve 21. Februar 2025.

Zum Weiterlesen:

 




Demokratie braucht Gemeinsinn

Die Pandemie hat es uns vor Augen geführt. Wir Menschen können nicht ohne einander. Es reicht nicht, sich nur um sich selbst zu kümmern im Alltag: durch Geld verdienen, durch Versorgen unserer Körper, durch Versorgen unserer Mitmenschen. Uns Menschen reichen diese Mikrokosmen nicht aus. Wir Menschen brauchen mehr. Wir brauchen etwas außerhalb unserer vier Wände.

Wo zeigt sich das?

Es zeigt sich in Vereinen, in Bürgerinitiativen, in Selbsthilfegruppen, in Nachbarschaftshilfen, im Ehrenamt, in Gesprächskreisen, in Erzählcafes, in Quartiersgemeinschaften, in Sportvereinen, bei der freiwilligen Feuerwehr.

Was tun wir Menschen in diesen Initiativen?

Warum nutzen wir unsere Freizeit, um uns auf diese Weise zu engagieren? Wir leben unseren sechsten Sinn. Es ist unser Gemeinsinn. Das Ehepaar Aleida und Jan Assmann, Trägerinnen des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2018, haben sich mit dem Gemeinsinn beschäftigt. Der Gemeinsinn sei unser 6. Sinn, und dies sei bekannt seit Hunderten von Jahren. Unser Gemeinsinn ist nicht zu verwechseln mit dem Gemeinwohl, das ist Aufgabe des Staates, das Gemeinwohl zu organisieren. Zum Beispiel Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Gemeinsinn wird gemeinsam mit anderen Menschen entwickelt. Gemeinsinn ist etwas Individuelles, eine Fähigkeit, die wir Menschen alle als Individuen haben. Diese Fähigkeit wenden wir an und trainieren wir in unseren Initiativen. Im Haus Mifgash beispielsweise, gibt es Begegnungsprojekte wie das Frauencafe, die Deutschkurse, die Stolpersteingruppe, grenzüberschreitende Projekte. Für die Organisation und Ideenentwicklung ist der Gemeinsinn notwendig. Die Assmanns sagen: Der Gemeinsinn existiert nur praktisch, man kann ihn nicht wählen. Der Gemeinsinn ist kleinteilig, er existiert nur „face to face“. Diese Art des gemeinsamen Arbeitens in unseren vielen Initiativen und Vereinen des Kreis Kleve ist uns Menschen ein Bedürfnis. Wir opfern nicht unsere Freizeit, sondern es ist uns ein Bedürfnis, diesen Tätigkeiten nachzugehen. Wir wollen diesen Gemeinsinn leben.

Was haben wir davon?

Wir begegnen hierbei Menschen, die ähnlich ticken wie wir. Das schafft Sicherheit und Konsens über Basiseigenschaften unserer demokratischen Gesellschaft. Es schafft Solidarität und schützt vor Sprachlosigkeit. Es schützt vor Faschismus durch Resilienz gegen Einsamkeit und Ausgrenzung. In der Einsamkeit wird man anfällig für sinnlosen Konsum und leere Parolen. Die Basis der Demokratie ist für mich das gewaltfreie Miteinander. Während ich meinen 6. Sinn, meinen Gemeinsinn auslebe, erfahre ich unendliche viele Facetten über mich und meine Mitmenschen. Ich erfahre sehr viel darüber, wie wir Menschen zusammenleben, wie andere gesellschaftliche Ethnien zusammenleben. Das gewaltfreie Miteinander ist die Basis der Demokratie. Ich persönlich möchte auch weiterhin sagen können, dass ich gerne Europäerin bin, dass ich gerne Demokratin in Deutschland bin und dass ich gerne eine engagierte Kreis Kleverin bin, die ihren Gemeinsinn ausleben darf. Wenn wir an nichtdemokratische Gesellschaften denken, wissen wir, dass zur Auslebung unsere Gemeinsinnes eine demokratische Gesellschaft nötig ist. Dies geschieht regional und für uns ist das der Kreis Kleve mit seinen Einwohnerinnen und Einwohnern.

Nach Aleida Assmann „die resiliente Demokratie braucht kein Feindbild, aber einen starken Sinn für das, was Menschen miteinander verbindet und zusammenhält“. Unsere vielen, auch multikulturelle nInitiativen im Kreis Kleve halten uns zusammen. Wir werden wählen gehen, weil wir für Demokratie sind, wir wissen wofür wir wählen gehen.

Der Text wurde bei den Demonstrationen gegen rechts in Emmerich am 08. Februar und am 9. Februar 2025 in Kleve von mir für Haus Mifgash vorgetragen. Bundestagswahlen werden am 23. Februar 2025 sein.

CATHERINA STAUCH

Zum Weiterlesen:

Aleida Assmann, Jan Assmann: GEMEINSINN – Der sechste, soziale Sinn im C.H.Beck Verlag 9783 406 82186 8

FUTUR ZWEI – MAGAZIN FÜR ZUKUNFT UND POLITIK : GEMEINSINN, N°31, 2025, www.tazfuturzwei.de

www.mifgash.de




Webinar “Wie Tech-Milliardäre unsere Demokratien zersetzen & was die EU tun kann”

Der Verein Europe calling e.V. in seiner 212. webinar -Ausgabe am 13. Januar  präsentierte sich mit dem Thema: “Wie Tech-Milliardäre unsere Demokratien zersetzen & was die EU tun kann”. Alexandra Geese, Europa Abgeordnete der Grünen zeigte sich besorgt darüber, dass die Tech-Milliardäre mit ihren Plattformen die deutsche Bundestagswahl im Februar 2025 beeinflussen könnten. Sie befürchte einen digitalen Angriff auf Europa.Sie berichtete, dass sie vermehrt, insbesondere politisch rechte Nachrichten auf ihrer Timeline von X erhalte, von denen sie nicht wisse, woher sie kämen. Sie erhalte notifications auf ihrem Handy, die sie nicht angefordert hätte.

Es gibt einen Informationskrieg durch Diebstahl des Rohstoff  „private Daten“

Shoshana Zuboff ist die Autorin des Werks „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“, das 2019 zunächst auf Deutsch erschienen ist. Sie gab einen Überblick über den Weg des Diebstahls des Rohstoffes „private Daten“ seit den 90-ziger Jahren.  Sie beschrieb das Internet als ein Gefängnis, dem man nicht entkomme. Es sei ein Vakuum entstanden, das das Überleben der Demokratien fraglich erscheinen ließe. Der Überwachungskapitalismus desozialisiere die Gesellschaft. Mark Zuckerberg habe der Rechtsstaatlichkeit den Krieg erklärt, indem er das Faktenchecken aus facebook herausnehmen wolle (Ankündigung von Herrn Zuckerberg am 7. Januar 2025). Die Techmilliardäre hätten Angst vor der Demokratie. Privatunternehmen kontrollierten ein globales Experiment, sie führten einen Informationskrieg. Zuboff beurteilte die Gesetzgebung der Europäischen Union als gute Grundlage. Man müsse daran anknüpfen.

Max Beckedahl, Netzaktivist u.a. bei Netzpolitik.org und re:publica, beschreibt, wie der US-Konzern Meta eine selektive Meinungsfreiheit betreibe. Zum Beispiel werde der Account von Herr Zuckerberg auf X deutlich bevorteilt. Die Selektion der Daten führe dazu, dass Meta mehr Rassismus erlaube oder Frauen aus den Netzen rausekele. Die europäischen Behörden seien unterfinanziert, um diesen Angriffen die Stirn zu bieten. Die digitale Zivilgesellschaft würde nicht geschützt. Es fehle der politische Wille, den digitalen Feudalherren etwas entgegenzusetzen.

Die EU zögere bei der Überprüfung von Manipulation der NutzerInnen sowie der Inhalte

Jacob Hanke-Vela, Journalist, derzeit Leiter der Brüsseler Niederlassung des Handelsblatt, hat Zweifel, dass die EU die Kontrolle über die Techmilliardäre mit dem Digital services act erreichen wird. Die Untersuchungen der Europäischen Union hätten lediglich kleine Erfolge bei Tiktok oder käuflichen blue check markers erbracht. Die wirklich wichtigen Untersuchungen über illegale Inhalte und Manipulation von NutzerInnen seien bisher nicht veröffentlicht worden. Auch gäbe es für die Untersuchungen keine Fristen. Die Vergehen gegen den DSA würden nicht vor Gerichten verhandelt. Lediglich die Kommission könne Strafen verhängen. Hierdurch würden politischen Deals Tür und Tor geöffnet. Er zeichnete ein eher negatives Bild der Wirksamkeit des Digitalen Dienste Gesetz (digital services act).

Robin Berjon, ehemals tätig für die New York Times, jetzt u.a. Mitinitiator der Kampagne „free our feeds“ thematisierte die digitale Infrastruktur und die Monopolsituation der Milliardäre. Die Kennzeichen einer Infrastruktur seien die Größe und Zahl der NutzerInnen sowie die Kontrolle durch die Betreiber. Hierzu gehörten auch Browser und Suchmaschinen.  Ähnlich der Wasser- und Stromversorgung müsse die digitale Infrastruktur in rechtsstaatlicher Hand sein und dürfe nicht Oligarchen überlassen werden. Diese üben nicht nur Kontrolle über die Meinungsfreiheit sondern auch über die Märkte aus. Bei diesen Themen sehe er große Defizite in der europäischen Politik.

Bundestagswahlen schützen durch EU-Maßnahmen sowie durch individuelle Handlungen

Kurzfristig, forderte Alexandra Geese, könne die EU-Kommission die Beeinflussung der  Reichweiten auf den Plattformen einschränken. Menschen sollten dort nur das sehen, was sie sich ausgesucht hätten. Die Empfehlungssysteme könnten ausgeschaltet werden. Die Hochfrequenzaccounts sollten nicht durch Algorhythmen verstärkt werden dürfen. Die circuit breakers sollten angewandt werden. Das interaktionsbasierte Ranking muss gestoppt werden, um den Verstärkungseffekt von Hass und Hetze zu unterbinden. Max Beckedahl sagte, man müsse in Alternativen denken. Es gäbe keinen Grund bei den herkömmlichen Messengern oder sozialen Netzwerken zu bleiben (Anmerkung: bei www.opendemocracy.net findet sich ein Vergleich der Messengerdienste mit eindeutigem Ergebnis). Man könne zu dem vertrauenswürdigeren messenger Signal wechseln und zu dem sozialen Netzwerk Mastodon.

Die langfristige Verteidigung der Demokratie müsse auf gesetzlicher Grundlage geschehen. Die Gesetze in der Europäischen Union müssten so gut sein, dass die Überprüfung der Verletzung möglich ist und mit Fristen vor Gericht gebracht werden können. Die Nachweisbarkeit der Gesetzesübertretungen muss gegeben sein und Verstöße vor Gerichten entschieden werden. Die EU brauche technische Souveränität mit eigener, unabhängiger, digitaler Infrastruktur. Hierzu gehöre eine europäische Cloud und eigene Chipproduktionen. Dies sei unerlässlich zum Schutz der demokratischen, digitalen Zivilgesellschaft.

CATHERINA STAUCH

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Verlag campus ISBN 978-3-593-50930-3

www.youtube.com: das webinar kann angesehen werden

www.freeourfeeds.com

www.berjon.com

Vergleich der Messengerdienste: www.opendemocracy.net

siehe auch wochentaz (25.-31.Januar 2025 Seite 37, Artikel von Christian Jakob

siehe auch FAZ vom 25. Januar 2025, Seite 17, Artikel von Corinna Budras




Menschen geben Energie

Wir befinden uns im November 2024. Man sollte nicht zum Fenster hinausschauen.  Wie zu erwarten ist es draußen grau, regnerisch und stürmisch. Aber es geht noch schlimmer. Der November 2022 war noch schlimmer.  Wir kamen aus der Pandemie.  Das Leben in der Pandemie war nicht nichts. Aber es hatte eine Tendenz in Richtung nichts. Es gab so viele Nichts:Nicht in die Schule gehen dürfen, nicht FreundInnen sehen können, nicht in die Vorlesung gehen dürfen, nicht zu Erstsemesterfeiern gehen können, nicht zu Besprechungen gehen dürfen, nicht essen gehen können, nicht in die Kneipe gehen dürfen, nicht zu Versammlungen gehen können, nicht in öffentliche Verkehrsmittel gehen, nicht in der Gruppe spazieren gehen sollen, nicht die Kranken im Krankenhaus besuchen dürfen, nicht die Alten in den Seniorenheimen sehen können, nicht zu Beerdigungen gehen dürfen. Die Zahl der „Nichts“ hörte nicht auf.

Leben vom Bestand, leben in Kacheln

Wir lebten vom Bestand in der Pandemie. Vom Bestand an Freunden und Freundinnen, vom Bestand an Kolleginnen und Kollegen, mit denen man den Kontakt aufrecht erhalten konnte über Virtualität. Neue Lebensabschnitte zu beginnen war fast unmöglich. Man konnte keine neuen Freunde gewinnen, keine gleichgesinnten KommilitonInnen im ersten Semester an der Universität kennenlernen, man konnte keine Geburtstagsfeiern abhalten, keine Abiturfeiern organisieren, kein Vereinsleben gestalten.  Hatten die Menschen keine Freundschaften in ihrem Leben vor der Pandemie, konnten sie keine  während der Pandemie aufbauen. In der Übergangssituation von Schule zur Ausbildung oder zum Studium existierte nichts. Es gab keine Perspektive. Bestenfalls gab es ein Leben im virtuellen Kachelmodus. Die Kacheln wurden beliefert vom Bestand der vorpandemisch bestehenden Kontakte. Es blieb nur der Besuch des Supermarktes, um Menschen zu treffen.

Ein erster Ausflug nach der Pandemie

Der erste Ausflug führte uns nach Ostfriesland an die Nordsee. Wir fahren auf der deutschen Seite der Ems in Richtung niedersächsische Küste. Ein Blick aus dem Auto und man hat den Himmel und das flache Land gesehen. Der nächste Blick zeigt nichts anderes. Himmel und braune Felder ohne Hecken, Bäume oder Baumgruppen um Häuser. Die Ebene zwischen Ems und Aurich, zwischen Norden und Emden ist ereignislos für die Augen und das Gemüt. Nur Lingen mit seinem Schornstein des ehemaligen AkW erhebt sich rechts der Autobahn.

Ein kleines Hotel hinter dem Deich bot kurzfristig Unterkunft.  Ein hoffnungsvoller Aufstieg auf den 8 Meter hohen Deich bot dem neugierigen Blick das graubraune Wattenmeer.  Der Blick nach links zeigte den geteerter Deich in Richtung des kleinen Ortes Greetsiel. Der Blick nach rechts zeigte den geteerten Deich in Richtung der Stadt Norden. Keine Dünen, keine Strandkörbe. Wellenbrecher auf dem Störtebeker Deich. Gelegentlich sah man Hinweise auf die Finanzierung des Küstenschutz durch die Europäische Union. Es gab Hinweise auf die Priele im Wattenmeer, auf die Moore und sumpfige Flächen, genannt Fehne. Markierungen auf den Straßen für den Regionalsport Bosseln. Niemand bosselte. Bei Windstille war gutes Fahrradfahren auf dem Deich möglich. Was sahen wir hierbei? Weite, Weite Weite. Nach jahrelangem pandemischen Nichts will ich keine Weite. Ich will Menschen sehen.

Bitte Menschen, zeigt Euch

Die Suche nach Leben in den kleinen Städten des Emslandes war erfolglos. Anfang November gibt es kaum noch Restauration. Es gibt keine Menschen in Strandkörben, keine Sandburgen bauende Familien, keine belebten Cafes, kaum Surfer. Die Augen und das Gemüt nahmen wahr: braune Felder, graubraunes Wattenmeer, graue Asphaltdecke der Deiche. Alles nicht das Richtige nach der Zeit des Nichts. Aber: in Greetsiel bewegten sich Menschen zwischen den spärlichen Sonnenstrahlen, sie leckten ihr Eis, aßen Krabben, staunten über die alten Kutter. Aufatmen, es gibt sie noch. Die Menschengruppen, die sich treiben lassen, es sich gut gehen lassen. Sie senden als mir unbekannte Gruppe Schwingungen aus, die ich empfange, ohne diese Menschen zu kennen.

Zurück im Hotel hinter dem Deich hatten wir mehr Energie. Wir hatten die Anwesenheit von Menschen erlebt. Erstaunt stellte ich fest, dass ich mich auch auf Menschen freue, die ich nicht kenne. Ich freue mich auf Menschen, deren Schwingungen ich empfange im Supermarkt, in der Straßenbahn, in der Fußgängerzone, im Imbiss. Sie haben eine Bedeutung, ohne dass ich diese Menschen kenne. Wir Menschen brauchen uns, auch wenn wir uns nicht kennen.

CATHERINA STAUCH

PHOTO CATHERINA STAUCH

 




Die unbekannte Stadt Carrara

Der weltberühmte, weiße Marmor wird in Carrara abgebaut. KunsthistorikerInnen, MuseumsgängerInnen und BaumarktnutzerInnen, also fast alle Menschen kennen diesen weißen Marmor. Aber wer kennt eigentlich diese Stadt?  Man kann es nicht glauben, wenn man

durch die derzeit 60 000 EinwohnerInnen zählende Stadt schlendert. Diese berühmte Stadt müsste doch voller Touristen und Touristinnen sein. Aber es ist keine Spur von Massentourismus oder gar Übertourismus zu sehen.

Es gibt eine gepflegte Fußgängerzone mit einigen Bars und wenigen Geschäften. Mit Mühe findet man den Dom. Auf der Piazza Gramsci tummeln sich in einer Bar mit Außensitzplätzen einige wenige StudentInnen, die vermutlich an der gegenüber liegenden Kunstakademie, einem trutzigen, zinnenbewehrten Bau, studieren. Man kann den kleinen Fluss Carrione überqueren und sieht verwahrloste Rückansichten von Häusern, die über dem steinigen Bachbett hängen. Achtlos geht man an massiven Marmorblöcken vorbei, die Teil der Brücken über den Carrione sind. Manchmal ist das Wasser des Flusses weiß gefärbt von dem Marmorpulver, das in den Abbaugebieten entsteht. Schön renovierte Fassaden mit kleinen Balkonen zum Beispiel an der Nordseite der Piazza Gramsci lassen das Wunschbild eines rundum schönen Carrara entstehen. Folgt der Blick den Straßen in Richtung Osten stößt dieser auf die Berge. Weiße, flächige Dreiecke zeigen mit ihren spitzen Winkeln in Richtung Tal. Kurz stutzt man. Gletscher? Sofort korrigiert man sich selbst. Es sind die Geröllhalden des Abbaus des weißen Marmors.

Die Achsen zwischen Bergen und Meer

Die gerade und breite Straße des 20. Septembers verbindet Carrara mit Marina di Carrara, dem Hafen. Auf dieser Achse landet man, wenn man von der Autobahn kommt. Mit offenem Mund schaut man auf die Lastwagen, die mit riesigen akkurat geschnittenen Marmorblöcken vorbeidonnern. Das Gewicht dieser Marmorblöcke soll circa 20 Tonnen betragen. Diese LKW fahren in die apuanischen Berge, holen den Marmor und rutschen nicht die Abhänge herunter, fragt man sich? Bei einer Tour in den Abbaugebieten wurde erklärt, dass Regen die mit Marmorpulver überzogenen steilen Straßen zu gefährlichen Rutschbahnen macht. Der Marmorabbau und -transport war immer und ist immer noch ein gefährliches Unterfangen. Fährt man auf der Via Aurelia zwischen Carrara und Marina di Carrara durch den Ortsteil Avenza in Richtung Süden zeigen sich rechts und links große Gelände mit Marmor in vielen Formen. Aufrecht wie Bilder in einem Ständer stehen die dünnen, bearbeiteten Platten aus Marmor so, als ob man sie einfach umblättern könnte. Skulpturen nach antiken Vorbildern und unverarbeitete Blöcke aus weißem Marmor werden gut sichtbar gelagert. Bei diesem Gewicht, ist es eher unwahrscheinlich, dass diese unbezahlt in einen Kofferraum geladen werden.

Diffuso bedeutet verstreut

Die schönen alten Städte in Italien haben kleine Gassen und kleine Häuser. Ein großes Hotel lässt sich hieraus nicht machen. So wurden zum Beispiel im süditalienischen Bundesland Apulien die sogenannten alberghi diffusi erfunden. TouristInnen schlafen in einem kleinen Haus einer Altstadt. Sie frühstücken oder essen in einem anderen kleinen Haus einer Altstadt. 2021 wurden die musei diffusi von Florenz aus initiiert. Die sogenannten „uffizi diffusi“ präsentieren die Werke der Uffizien dezentral an verschiedenen Orten in der Toskana.

Und in Carrara gibt es eine mostra diffusa. Es ist eine Ausstellung an verschiedenen Orten, sowohl unter freiem Himmel als auch in Läden mit großen Schaufenstern: das „white Carrara“ mit dem Untertitel „design is back“. Zum 8. Mal findet diese Ausstellung statt (14. Juni bis 29. September 2024). Insbesondere auf dem größten Platz des Ortes, der piazza alberica finden sich große Marmorblöcke, auf denen Skulpturen ausgestellt waren. Das Konzept besteht darin, dass eine Firma des Ortes den Block und eine andere Firma das Marmormaterial mit den Arbeitswerkzeugen für die Künstler und Künsterinnen zur Verfügung stellt, um die Marmorskulpturen zu fertigen. Unter freiem Himmel ist die Kanne aus der Plissee Sammlung von Alessi (Michele de Lucchi), der Korkenzieher Anna G. ebenfalls von Alessi (Alessandro Mendini 1994) sowie der Panda, als Symbol für die bedrohte Natur von Elena Salmistraro zu sehen.

In den Räumen der mostra diffusa werden zahlreiche Gebrauchsgegenstände wie Buchstützen oder Lampen gezeigt. Die Firma „Gamlux“ zeigt umwerfende Lampen. Wie Antonio Leone erklärt, nutze er Marmorreste, um Lampen herzustellen. Die Technik hierfür muss ausgetüftelt werden. Seine Lampen bestehen häufig aus beweglichen Teilen, die zu- und aufgeklappt werden können. Die Marmorscheiben sind so dünn geschnitten, dass Licht durchdringen kann. Der Stein zeigt dann Schlieren, Kreuzungen der Linien in spitzen Winkeln, in weiten Winkeln und flächige Färbungen. Ein „Aura“ genanntes Lampenobjekt besteht aus 8 Rechtecken, die auf ihrer schmalen Seite auf einer runden Platte von circa 20 cm Durchmesser befestigt sind. Wie eine Blume können die Rechtecke auf- und zugeklappt werden. Diese Lampenobjekte sind fordernd. Sie fordern 360 Grad Raum um sich. Sie fordern einen gewissen Abstand des Blickes. Nur so kann man ihre Wirkung erfassen. Die Verbindung von Material, reduzierter kantiger Form und marmorweißem Licht sollte isoliert stehen. Wer eines dieser Objekte erwirbt, sollte sich vorher Gedanken machen, ob das künftige Heim der Lampe genügend Raum bieten kann.

Aufstand der Frauen am 7. Juli 1944

Auf der piazza delle erbe ist ein mindestens 40 qm großes Wandgemälde der Partisanin Francesca Rolla zu sehen (Beitragsbild) mit der Inschrift: „Nicht die Stadt verlassen“.  Die circa 100 000 Partisaninnen Italiens waren eine wichtige Säule der Widerstandskampfes gegen die deutschen Besatzer. Mit ihren Fahrrädern und ihren Kenntnissen der Berge bildeten sie wichtige Verbindungsstaffetten zwischen den Einheiten der Partisanen, um Informationen, Waffen und Lebensmittel zu transportieren. Sie waren beteiligt an dem Aufstand der Frauen am 7. Juli 1944, als die deutschen Besatzer Carrara räumen lassen wollten, um die Bewohnerinnen in Herden in die Berge zu treiben. Angeführt von den Partisaninnen marschierten die Frauen Carraras zu den deutschen Befehlshabern und verhandelten mit ihnen. Drei Tage später kapitulierten die deutschen Machthaber vor der entschlossenen Menge und verzichteten auf die Evakuierung. Zum Gedenken ist eine Straße Via 7. Giulio benannt worden. Vor dem Rathaus ist ein Marmorrelief zum Aufstand der Frauen zu sehen.

Kreative Stadt

Seit 2017 ist Carrara gelistet im Unesco Netzwerk Kreativer Städte. Dieses Netzwerk verpflichtet sich den 17 Nachhaltigkeitszielen der UNO Agenda 2030. Die Städte sind gehalten, bei der Entwicklung der urbanen Zukunft Netzwerke aufzubauen und Ideen sowie Techniken auszutauschen, um die urbane Zukunft lebenswert zu machen. 2024 gibt es nach Angaben des UNESCO Büros in Bonn 350 Städte weltweit, die diesem Netzwerk angeschlossen sind. Carrara gehört dort rein mit seinem Können im Abbau und der Bearbeitung des Marmors. Carrara hat viel Können zu vermitteln. Sie hat eine Partnerstadt in Deutschland, nämlich Ingolstadt in Bayern. Weltweit müssten die Städte Schlange stehen, um ebenfalls Partnerstadt dieser historisch interessanten und schönen Stadt zu werden.

CATHERINA STAUCH

PHOTO CATHERINA STAUCH: Die Lampe im Text heißt IRIS. Das Photo wurde von Antonio Leone (Firma Bruno Lucchetti Marmo) genehmigt.

 

Quellen:

www.platformarchitecture.it

www.whitecarrara.it

www.gamluxpietradiluce.it

www.resistenza.de

Film: Geschenkt wurde uns nichts von Eric Esser

https://www.unesco.de/orte/creative-cities/aufgaben-und-ziele

 




Kommentar zu „Männerwelt unter Plagiatsverdacht“ von Jan Brachmann

Noten

Der Titel des Artikels (FAZ 23. August 2024) von Jan Brachmann „Männerwelt unter Plagiatsverdacht“ ist so eindeutig, dass man es nicht glauben kann. Es geht um seit Jahrhunderten stattfindendem Diebstahl an geistigem Eigentum von Frauen. Auch heute ist diese deutliche Stellungnahme gegenüber der männlichen Einverleibung von weiblichen Leistungen nicht üblich. Sowohl mit dem Begriff „Männerwelt“ als auch dem Begriff „Plagiatsverdacht“ im Titel seines Artikels stellt der Journalist unverschleiert den Straftatbestand des Plagiats dar. Das ist selten in der patriarchalen Weltordnung.

Die Komponistin ist älter als Beethoven

Brachmann schreibt über das Klavierfestival „Raritäten der Klaviermusik in Husum (17. bis 24. August 2024). Mit dem Wort „Erschütterung“ beschreibt er die Ähnlichkeit der Musik der deutschen Romantiker zu der Musik der französischen Komponistin Helène de Montgeroult. Nur: die Komponistin (1764 -1836), ist deutlich älter als Beethoven (6 Jahre), Schubert (33 Jahre), Mendelssohn-Bartholdy (45 Jahre) und Chopin (46 Jahre). Allein aus diesen Zahlen ist der Plagiatsverdacht unumgänglich. Es ergibt sich hieraus die Notwendigkeit der Neuschreibung der Musikgeschichte in Bezug auf die deutsche Romantik und in Bezug auf die deutlich ältere Komponistin, schreibt Jan Brachmann. Die Geburtsjahre sind ein unbestechliches Argument für das Plagiat gegenüber der Ähnlichkeit der Musik zu der älteren, weiblichen französischen Komponistin.

Vergessen ist ein Machtmittel

Diebstahl an geistigem Eigentum ist heute ein Straftatbestand, der mit Freiheitsstrafen bis zu 3 Jahren belegt kann. Trotzdem werden diese Taten, begangen an weiblichen Leistungen auch heute noch oft bagatellisiert. Man spricht davon, dass es „andere Zeiten“ waren. Damit ist nicht nur das 18. und 19. Jahrhundert, sondern auch das 20. Jahrhundert gemeinst. Häufig werden weibliche Leistungen einfach vergessen. Geschlechtsspezifische Amnesie als Machtmittel wirkt. Sie beraubt Frauen ihres kulturellen Erbes mit der Folge des Verlustes ihres kulturellen Gedächtnisses. Vergessen ist ein Machtmittel von Siegern. „Vergessen“ ist ein „sanftes“ Mittel um kulturelles Erbe zu zerstören. Man merkt es nicht sofort, wenn die Namen der Frauen nicht mehr oder seltener erwähnt werden.  Das „Vergessen“ ist wirkungsvoll wie das siegerhafte, militärisches  Zerstören von Museen, Kirchen und Archiven und das Verbot von Sprachen. Die Sieger nehmen den Besiegten die kulturelle Identität. Ohne Vergangenheit kann niemand leben, sagt die Kulturwissenschafterin Aleida Assmann. Dies gilt auch für Frauen mit ihrer Geistesgeschichte.

Wir brauchen solche Klarstellungen und klare Stellungnahmen zum Thema Raub des geistigen Eigentums an Frauen wie Herr Brachmann sie geschrieben hat. Dieser Baustein trägt bei zur Korrektur und Rekonstruktion der weiblichen sowie männlichen Kulturgeschichte.

CATHERINA STAUCH

PHOTO CATHERINA STAUCH




Überrascht von sich selbst – Kreis KleverInnen gegen rechts

„Man sieht sich…“ sagte der Kollege mit vielsagendem Blick in meine Richtung. Ich traf ihn bei der Veranstaltung des Bündnisses „emmerich.demokratisch.vielseitig“. Der Kollege ist auch dabei, dachte ich. Er ist auch gegen rechts und sofort habe ich ein anderes Bild von ihm. Einer, mit dem ich mich jenseits des Berufsalltages austauschen kann, dachte ich.

Man fühlt sich schlecht bei den Entwicklungen der letzten Monate. In allen europäischen Staaten sind rechte Strömungen, Organisationen und Parteien entstanden. Sie sitzen in den Parlamenten oder stellen die Regierung. Die deutsche AfD wird stärker, und viele sorgen sich um unsere Demokratie. Doch es gibt Bewegung gegen rechts, es gibt sie überall, auf dem Land und in der Stadt, auf der Straße und in vielerlei Begegnungsstätten organisiert von ganz unterschiedlichen Initiativen und Institutionen.

Die Kreis KleverInnen bewegen sich

Es gab etliche Demonstrationen im Kreis Kleve in den letzten Monaten: Demonstrationen gegen rechts in Kevelaer (am 14. Januar 2024), in Kleve (am 21. Januar 2024), in Emmerich (am 03. Februar 2024), in Kalkar (am 17. Februar), in Sonsbeck (am 07. 04.2024). Die Demonstration in Kalkar startete an der Schule mit einer Einleitung der SchülerInnen des sozialwissenschaftlichen Kurs. Die Demonstration in Kleve war so gut besucht, dass die Menschen am Bahnhof noch nicht losgelaufen waren, als eine große Menschenmenge schon den Platz vor der Schwanenburg bevölkerte für eine Kundgebung. Mutmaßlich waren es an die 10 000 DemonstrantInnen. Kleve hat circa 53 000 EinwohnerInnen. Die von circa 2000 Menschen besuchte Demonstration in Emmerich endete mit der Europahymne vor dem Rathaus.

Die Kreis KleverInnen organisieren Veranstaltungen

„Erstaunlicherweise war es einfach…“ sagte die SPD Kreistagsabgeordnete Andrea Schaffeld-Pastoors zur Entstehung des Bündnisses. Im Oktober 2023 war in Emmerich ein Kernbündnis gegen rechts gebildet worden. Dieses besteht aus mehreren Vereinigungen: SPD, BGE (Bürgergemeinschaft Emmerich), CDU, Bündnis90 Die Grünen, FDP, AWO, Integrationsrat der Stadt Emmerich sowie die Kulturvereine Kultur,Künste,Kontakte und Bürgeraktion Pro Kultur e.V.

Dieses Bündnis bot eine von über 150 Menschen im Emmericher PAN Museum (am 9. April) besuchte Veranstaltung gegen rechts an mit Beteiligung des Sozialwissenschaftlichen Kurses der Gesamtschule.  Professor Klaus Peter Hufer von der Fakultät Bildungswissenschaften der Universität Duisburg leitete die Veranstaltung ein mit einem Überblick über die Entstehungsgeschichte der Demokratie. Der anschließende workshop mit Übungen zum Umgang mit Stammtischparolen von rechts moderierten die jungen Schülerinnen und Schüler. Eine weitere Veranstaltung in Emmerich fand am 15. Mai statt.  Stephan Anpalagan (Theologe und Journalist) hielt einen humorvollen, interaktiven Vortrag. Das Publikum sollte die Frage „Was ist deutsch?“ beantworten. Die Sammlung enthielt Begriffe wie Bier, Pünktlichkeit, Vielfalt, Grundgesetz, Sprache, Nationalhymne als Antwort. Stephan Anpalagan erläuterte die „typisch deutschen“ Eigenschaften wie Pünktlichkeit mit der „Pünktlichkeit“ der deutschen Bahn. Die Nationalhymne der Deutschen wurde von einem Österreicher, nämlich Joseph Haydn komponiert, der Text wurde auf der damals britischen Insel Helgoland von Hoffmann von Fallersleben geschrieben. Diesem wurde wegen staatfeindlicher Aktivitäten die preußische Staatsbürgerschaft entzogen. Das „Deutsche“ ist also ziemlich international und auch ziemlich unklar.

Wie erkennt man rechte Stammtischparolen?

Professor Hufer beschrieb, ein generelles Zeichen von oft nicht sofort erkennbaren rechten Stammtischparolen sei die Einteilung in „wir“ und „ihr“. Sätze wie „Die  da oben (Politiker) machen doch, was sie wollen“, „Politik ist ein schmutziges Geschäft“ oder „wenn das so weitergeht mit der Zuwanderung, gibt es bald keine Deutschen mehr…“ Diese Gegensätze zeigen eine heile „Wir-Welt“ und eine bedrohliche  „Ihr-Außenwelt“. Die Parolen hätten oft ein Überraschungsmoment, das einen sprachlos mache und zunächst in die Defensive bringe. Man solle sich nicht irritieren lassen durch diese Wirkung, sondern Ruhe bewahren und Argumente suchen. Es gäbe auf die Dauer gute Chancen, dass die Argumente wirken.

Die Wirkung auf uns selbst

Es war interessant zu beobachten, wie ungläubig die TeilnehmerInnen der Veranstaltungen auf die große Zahl  der MitstreiterInnen blickten. Man sah sich verstohlen um und dachte: „das kann nicht wahr sein“. So viele Menschen, die gegen rechts auf die Straßen gehen. „Das hätte ich dem konservativen Kreis Kleve nicht zugetraut“, sagte ein Teilnehmer einer Demonstration. Man traf Bekannte und freut sich darüber. Ein circa 55-Jähriger, sozial sehr engagierte Mann sagte: „ich bin zum ersten Mal in meinem Leben auf einer Demo.“

Die Wirkung der Veranstaltung auf die Menschen ist erfreulich, jedoch uneindeutig. Ja, natürlich, in dem allgemeinen Unbehagen brauchen wir eine Verortung. Die Kreis KleverInnen leben in einem hoch verdichteten Landkreis mit vielen Kleinstädten. Die CDU war über Jahrzehnte unantastbar meinungsbildend. Aber sind Parteien heute noch die richtigen Institutionen der politischen Verortung? Das Unbehagen von den auf den Land lebenden Menschen wird vermutlich anders erlebt als in den Rheinruhrmetropolen, in Thüringen oder in Bayern. Wer sind wir, die wir auf dem Land an der holländischen Grenze leben und eine große Präsenz gegen rechts zeigen? Ganz sicher waren die Menschen, die im letzten Jahr im Kreis Kleve gegen rechts aufgestanden sind keine Randgruppe, sondern eine Mehrheit. Diese Mehrheit muss über Sichtbarkeit im politisch-öffentlichen Raum jenseits von Parteien nachdenken. Und es braucht Handwerkzeug im Alltag, wie zum Beispiel Seminare gegen Stammtischparolen.

 Wir sollten uns nicht unterschätzen und an unsere Selbstwirksamkeit beim Erhalt und der Gestaltung der Demokratie glauben. Wir haben keinen Grund, uns dies nicht zuzutrauen.

Die erfreuliche Begegnung mit meinem Kollegen und anderen Menschen der Region wird sicherlich zu mehr Gesprächen, Austausch, Vernetzung oder sogar Aktivitäten führen. Wir werden rausfinden aus der zivilisatorischen Starre. Wir Bürgerinnen und Bürger werden uns ein neues Bild von uns selbst jenseits von Parteien oder Rechts-Links Schemata machen. Wir arbeiten so an der Demokratie und bilden vielleicht neue Arten von Gemeinschaften. Zu dieser Hoffnung gibt es jede Menge Grund.

Termine:

31.07.2024, 19 Uhr, Kolpinghaus Goch: DemokraTisch – Treff für Demokratie Fans organisiert vom AWO Kreisverband Kleve e.V. www.awo-kreiskleve.de, Pressekontakt: Natalie.Guntlisbergen@awo-kreiskleve.de

Politischer Abend am 15. September 2024, 20:00 Uhr: 75 Jahre Grundgesetz “ Die Würde des Menschen ist unantastbar…“ eine musikalische Lesung mit Roman Knizka und dem Bläserquintett Opus 45 im Stadttheater Emmerich, Grollscher Weg 6, 46446 Emmerich am Rhein

Bücher:

Klaus Peter Hufer: „Argumentationstraining gegen Stammtischparolen“ ISBN 978-3-87920-054-2 u.v.a.m.

Stephan Anpalagan: „Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft.“ S. Fischer, Frankfurt am Main 2023, ISBN 978-3-10-397198-9.

CATHERINA STAUCH

PHOTO: CATHERINA STAUCH

 

 

 

 




Gedächtnisverlust bei weiblichen Leistungen

Patriarchale Strukturen gibt es seit Tausenden von Jahren. Ein Wesenselement dieser Strukturen ist das Vergessen. Das Vergessen von weiblichen Leistungen ist ein wiederkehrendes Merkmal. Zwei aktuelle Ausstellungen in Berlin zeigen das Vergessene.

„läuft“ Ausstellung zur Menstruation

Das Museum Europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem zeigt eine abwechslungsreiche und informative Ausstellung zur Geschichte des praktischen Umgangs mit der Menstruation. Die Ausstellung entwickelt ihre Themen entlang einer Zeitleiste ab 1880. Verschiedenen Menstruationsartikel der letzten 140 Jahre werden beschrieben. Es werden Kleidungsstücke gezeigt, mit deren Hilfe diese Tage  bewältigt wurden vor der Zeit der Unsichtbarkeit der Einmalartikel. Es gibt die Möglichkeit, diese Kleidungsstücke anzuziehen und das Körpergefühl zu erfahren, das die teilweise voluminösen Kleidungsstücke vermitteln.  Und Bilder der Enttabuisierung  der Menstruation werden gezeigt:  Eine professionelle Langstreckenläuferin zeigt das zwischen den Beinen sichtbare Blut während der Siegerinnenehrung.

Bewegung der Selbsthilfegruppen vergessen?

Menstruation und menstruieren hat viel mit Tabuisierung zu tun. Schweigen und Stigmatisierung hat in allen Gesellschaften immer zu diesem körperlichen Vorgang von 2 Milliarden Menschen gehört. Unwissen über die eigenen körperlichen Vorgänge blieb im Unsichtbaren.  Erstaunlicherweise wird in der Ausstellung kein Bezug genommen zur Frauenbewegung mit ihren Selbsthilfegruppen der 70-iger Jahre des letzten Jahrhunderts.  Die damals entstehenden Selbsthilfegruppen mussten erst einmal die Scham überwinden, über ihren Körper und seine Funktion zu sprechen. Frauen fanden zusammen, um über ihre Körper zu lernen. Sexualkundeunterricht gab es kaum. Häusliche  oder familiäre Aufklärung über den weiblichen Körper war oft mangelhaft bis nicht vorhanden. Frauen in Selbsthilfegruppen erwarben das Wissen über den eigenen Körper in Selbstuntersuchungen und durch weitergereichte Broschüren, Hefte und Bücher, die sich bewusst gegen die Herrschaftsmedizin stellten. Sie informierten sich gegenseitig  über die Gebrauchsartikel, die es gab. Schwämme und Tassen wurden entdeckt, teilweise wiederentdeckt. Die verschiedenen Anwendungsangebote von Tampons mussten gelernt werden.

Die Ausstellung vermitteln den Eindruck, als würden Frauen (und Männer?) schon immer unbefangen über Menstruation reden. Nein, das war definitiv nicht so. Schon 40 bis 50 Jahre nach der autonomen Frauenbewegung, die auch ein Rückeroberung des Wissens über den eigenen Körper war, zumindest in der westlichen Welt, scheint diese Selbsthilfebewegung der Frauen, mal wieder, vergessen zu sein.

Ausstellung „Gemeinsam sind wir unerträgllich“

Auf dem Weg zu dieser Ausstellung kommt man zunächst in den Innenhof des Ministeriums für Staatssicherheit, wo man eine vielmetrige Ausstellung der Robert-Havemann-Gesellschaft unter freiem Himmel sehen kann. Diese Ausstellung  „Revolution und Mauerfall“ über die friedliche Revolution der DDR zeigt viele Protagonisten als Einzelpersonen, in kleinen Gruppen und auf Kundgebungen.  Protagonistinnen konnte ich nicht entdecken. Lag es am kalt tropfenden, trüben Himmel, der mich die Frauen der friedlichen Revolution übersehen ließ? Bei genauem Hinsehen sah ich immerhin „Mit-läuferinnen“ in den Demonstrationen.

Zur Entschädigung konnte man bis zum 11. Februar 2024 in das Haus 7 des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gehen und sich die Posterausstellung „Gemeinsam sind wir unerträglich“ ansehen. Diese abwechslungsreiche auf großen Postern und Schautafeln konzipierte Ausstellung zeigt den Weg vom Privaten zum Poltischen. Frauen trafen sich zunächst privat und dezentral an vielen Orten der DDR. Es gab Selbsterfahrungsgruppen,  Frauengruppen für den Frieden und solche, die sich gegen Umweltzerstörung einsetzten,  lesbische Gruppen, Gruppen, die sich mit feministischer Theologie und Gewalt gegen Frauen, beschäftigten. Frauen vernetzten sich. Zahlreiche Dokumente sind zu sehen, die im Eigenverlag erschienen. Flugblätter sind abgebildet. Die Kirche half, eine Infrastruktur aufzubauen mit Räumen, Papier, Druckern, Kopiergeräten. Und im Dezember 1989 gründeten 60 Frauengruppen den unabhängigen Frauenverband, den UFV. Es erschien das Manifest für eine autonome Frauenbewegung „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen“, verfasst von Ina Merkel, heute emeritierte Kulturwissenschafterin der Universität Marburg. Der UFV kandidierte im März 1990 bei den Volkskammerwahlen. Die UFV konnte zusammen mit dem Wahlbündnis der grünen Partei der DDR  den Anspruch, die Interessen aller Frauen parlamentarisch zu vertreten nicht umsetzen. Der Versuch sich mit westdeutschen Frauen zu verbünden scheiterte.

Die Posterausstellung ist sehr abwechslungsreich. Viele Dokumente, Slogans und Inhalte erinnern sehr an die westdeutsche Frauenbewegung.  Das Private ist politisch lässt sich für die Bewegungen in beiden deutschen Staaten nachvollziehen.

Erinnerungskultur für Feminismus

Die  große Ausstellung  der Robert-Havemann-Gesellschaft ohne Raum für weibliche Leistung, die beengten Räumlichkeiten der sehr guten Ausstellung zur Geschichte der Frauenbewegung der DDR, das Nichtdarstellen der autonomen Frauenbewegung in der Ausstellung zur Menstruation zeigen den Gedächtnisverlust, der sich sehr schnell einstellt, wenn es um Leistungen und Selbstermächtigung von Frauen geht. Und doch gibt es heute weltweit Aufmerksamkeit erregende Bewegungen wie die Me-Too Bewegung, die nun wirklich ein Prototyp des „Das Private ist politisch“ ist oder die „One Billion rising“ Bewegung, in der Frauen aktuell auf die Straße gehen und sich gegen patriarchale Übergriffe wehren.

Überwindung der Amnesie und Vernetzung

Ein neuer Versuch der Aufarbeitung der Ost- und Westfrauenbewegungen zur Überwindung der Amnesie unserer Geschichte wäre ein wichtiges Ziel. Im Osten wurden nichtstaatliche Organisationen misstrauisch beobachtet, inoffizielle Mitarbeiterinnen eingeschleust, um die autonomen Frauengruppen zu zersetzen. Manche Gruppen lösten sich daraufhin auf, was Ziel der Staatssicherheit war. Im Westen wurde die Frauenbewegung in staatlichen Organisationen, Universitäten, Gewerkschaften und im Parlament verhöhnt und nicht ernst genommen. Jedes Patriarchat hat seine eigenen Unterdrückungsmethoden. Die Methode der Gedächtnisstörung, des Erinnerungsverlustes haben alle Formen der Patriarchate. Diese  zerstörerischen Methoden beschädigen das Gedächtnis der Frauenbewegungen und den Stolz auf das Geleistete. Die Erinnerungskultur, von der allenthalben die Rede ist, muss auch für die Leistungen der Frauenbewegungen gelten.

Die Wanderausstellung war bis zum 11. Februar 2024 auf dem ehemaligen Gelände des Ministeriums für Staatssicherheit zu sehen. Sie ist spannend und sehr empfehlenswert. Es sollte ihr jedoch mehr Quadratmeter eingeräumt werden als sie in den ehemaligen MfS Räumen hatte. Der Ausstellungskatalog erzeugt zumindest bei altgedienten Feministinnen viele Aha-Erlebnisse.

CATHERINA STAUCH

PHOTO CATHERINA STAUCH

Die Ausstellung zur Menstruation „läuft“ vom 06.Oktober 2023 bis 06. Oktober 2024

Agentur für Bildung, Geschichte und Politik e.V.: Wanderausstellung „Gemeinsam sind wir unerträglich“ – Ausstellungskatalog ISBN 978-3-96311-872-2, 20 €uro




Petition zum Niersexpress übergeben

45 Personen hatten sich am Abend des Blitzeises vom 11. Januar 2024 im Bürgerhaus Weeze eingefunden. Yannik Berbalk, 25-jähriger Bürger des Kreis Kleve und sachverständiger Bürger der SPD Fraktion im Kreistag hatte zur Podiumsdiskussion eingeladen. Auf dem neunsitzigen Podium saßen betroffene BürgerInnen, Bundestagsabgeordnete für den Kreis Kleve, der Landrat, VertreterInnen der Deutschen Bundesbahn und der NIAG. Der Konzernbevollmächtigte Werner Lüberrink der Deutschen Bahn war verhindert.

Berbalk führte in die Thematik ein. Er beschrieb, dass viele Bahnstrecken in der BRD marode seien und Probleme hätten. In die „Modernisierung“ des RE 10 der Deutschen Bundesbahn (DB) seien jedoch 90 Millionen aus den Fördertöpfe des Bundes geflossen. Und nun stehen die BürgerInnen des Kreis Kleve vor einem desaströsen Ergebnis. Dieses wurde beispielhaft beschrieben von einem Pendler des Kreis Kleve: zahlreiche Zugausfälle, Fehlinformationen in den Apps und Bahnsteiganzeigen der DB, keine Planbarkeit des Arbeitsalltages sowie des Schulalltages. Höhere finanzielle Belastungen durch umgebuchte oder verfallene Fahrkarten sowie Taxikosten oder andere Arten der Ersatzmobilität wurden beschrieben.

Die Vertreter der DB erläuterten den Verlauf der Arbeiten an der Strecke. Sie arbeiteten mit dem auf Stellwerkstechnik spezialisierten Unternehmen Scheidt &Bachmann zusammen. Dieses ist laut ihrer Homepage international erfolgreich. Die DB-Vertreter beschrieben unerwartete Probleme wie Wasserschäden, die eine Erneuerung der Kabelverlegung erforderten. Die 1,2 Kilometer Kabel seien bestellt, lautet der Befund des einen DB Vertreters.

Tenor

Die Bundestagsabgeordneten und Kommunalvertreter forderten die Einberufung eines Runden Tisches und eine bessere Kommunikation. Betroffenheit und Appelle an Partnerschaftlichkeit wurden geäußert.  Die Hilflosigkeit war offensichtlich. Verantwortliche wurden nicht benannt. Konkrete Ursachen wurden vage beschrieben. Es erfolgte keine Zusage für einen verlässlichen Schienenersatzverkehr für die anhaltende Bauphase bis 2030, die eine erboste Bürgerin forderte. Keine Zusage, wie eine verbesserte Kommunikation zwischen BahnApp, Bahnsteigmeldungen und Auskunftsfähigkeit durch Bahnbeschäftgte erzielt werden könne.

Folgen

Der Hochschulpräsident der Hochschule Rhein-Waal Oliver Locker-Grütjen mit Standorten in Kamp-Lintfort und Kleve wurde zitiert mit der Befürchtung, dass die Zahlen der HochschulstudentInnen wegen der schlechten Erreichbarkeit Kleves weiter zurückgehen könnten. Behinderte könnten den Re 10 nicht benutzen. Familien müssten sich mehrere Autos anschaffen, damit die Arbeitsplätze, die weiterführenden Schulen, Berufsschulen, Hochschulen, Ausbildungsstätten erreicht werden könnten. Von einer Verkehrswende kann unter diesen Umständen nicht mehr die Rede sein. Der Landrat befürchtet, dass aus der Region Unterer Niederrhein der Hintere Niederrhein wird.

Perspektiven

Für den 12. Januar 2024 kündigte Yannik Berbalk die Gründung einer Bürgerinitiative zur Mobilitätssituation im Kreis Kleve an. Die Attraktivität des Kreis Kleve dürfte sinken, wenn eine kontinuierliche Information der Öffentlichkeit hierzu erfolgt. Welche ÄrtzInnen sollten mit ihren Familien in den Kreis Kleve ziehen, wenn kein verlässlicher Öffentlicher Nahverkehr vorhanden ist? Soll eine Bewerbung für die  Landesgartenschau in Kleve  erfolgen, wenn allgemein bekannt ist, dass der Kreis nur mit Privatautos zu erreichen ist? Welche Firmen können Auszubildende annehmen, wenn diese ihre Ausbildungsbetriebe und Berufsschulen nicht pünktlich erreichen können?

Hoffnung

Bleibt zu hoffen, dass die in Buchform übergebene Petition die Verantwortlichen (wer sind diese?) zu mehr Effizienz in ihrem Arbeiten  anhält. Bleibt auch zu hoffen, dass das bürgerschaftliche Engagement von Yannik Berbalk und seinen MitstreiterInnen  durch Spenden unterstützt wurde und wird. Bleibt ebenfalls zu hoffen, dass alle TeilnehmerInnen dieses Abends des Blitzeises sicher in ihren PKWs nach Hause kamen. CATHERINA STAUCH

PHOTO:CATHERINA STAUCH