Die NiederländerInnen sind großzügig. Fährt man mit dem Fahrrad durch ihre Dörfer wird einem häufig Einblick in die Erdgeschosse gewährt. Ich möchte nicht als neugierige Deutsche beobachtet werden. Also steige ich nicht vom Fahrrad ab, um durch gardinenlose, großen, ebenerdigen Fenster eines Reihenhauses zu gaffen. Aber das Vorbeiradeln reicht meist, um den Raum mit den Augen zu erfassen.
Fahre ich tagsüber vorbei, sehe ich häufig einen großen Tisch umstellt mit mindestens 6 hochlehnigen Stühlen. Um die Möbelgruppe ist Raum. Die Stühle haben Platz. Sie stehen mit Abstand zueinander. Es ist Raum hinter ihnen. Sie können gut von dem Tisch zurückgezogen werden. Dem Tisch und seinen Stühlen wird viel Raum eingeräumt. Man muss sich nicht schräg reinquetschen oder den Bauch einziehen, um sich an den Tisch zu setzen. Nichts muss verrückt werden, wenn alle sich um den Tisch herumsetzen wollen. Der Tisch mit seinen Stühlen im niederländischen Raum hat den besten Platz im Raum und kann jederzeit benutzt werden. Der Tisch ist jederzeit bereit für seine Aufgaben.
Die Wirkung des Hineinblickens
Der Anblick ist schön. Sofort fühlt man sich angezogen von der Vorstellung, wie Menschen um den Tisch herumsitzen und miteinander sprechen. Angenehme Bilder entstehen in meinem Kopf. Ich schaue nochmal genau hin. Die Fenstersimse sind meist niedrig. Meist stehen zwei gleiche Vasen oder zwei andere gleichartige Objekte mittig auf der Fensterbank. Die Symmetrie der Objekte hat eine beruhigende Wirkung. Häufig kann man durch den Raum hindurch sehen. Am Ende des Raumes sieht man aus dem Haus heraus. Zwischen eintretendem und austretendem Blick ist nicht selten hinter dem Tisch mit den Stühlen eine kleine Sitzecke zu sehen. Es ist eine Ein- oder Zweipersonenecke. Es ist ein Kontrast zu dem großen Tisch. Eine typisch deutsche Couchgarnitur sieht man in den Niederlanden selten. Ich spüre ein „Kommreingefühl“.
Kreuzungen am Tisch sind möglich
Viele Tätigkeiten sind an dem großen Tisch möglich. Morgendliches Kaffeetrinken und Zeitunglesen, Einkaufszettel schreiben und Homeoffice. Die Post vom Vortag kann unsortiert am anderen Ende des Tisches liegen. Kinder können Hausaufgaben machen. Meist ist es nicht weit zu den Wasserkochern für Tee und Kaffee. Menschen können am Tisch spielen, basteln, nähen, reparieren. Der Tisch kann mit einem geerbten Leintuch bedeckt werden und für Gäste mit dem Besten aus dem Geschirrschrank vorbereitet werden. Musik kann im Hintergrund dudeln. Menschen können allein oder gemeinsam am Tisch essen. Fast jede häusliche Aktivität kann an einem großen Tisch stattfinden. Es ist der Treffpunkt der Menschen. Viele Tätigkeiten kreuzen sich am Tisch.
Abstand und Augenhöhe
Am Tisch kann man gemeinsam oder allein sitzen. An einem großen Bibliothekstisch kann jede Person für sich lesen und schreiben. Der Abstand zur nächsten Person wird der größtmögliche sein.
Die Menschen, die zum Abendessen zusammengekommen sind werden sich in gleichem Abstand zueinander setzen. Die TeilnehmerInnen einer Gesprächs- oder Diskussionsrunde werden sich ebenso in gleichem Abstand zueinander setzen. Der Aufenthaltsraum in einem Betrieb mit einem großen Tisch wirkt einladend auf alle MitarbeiterInnen. Selbst der Chef oder die Chefin möchten TeilnehmerIn dieser Tischrunde sein.
Diesen Situationen ist gemeinsam, dass alle um den Tisch Sitzende sich in Augenhöhe zueinander befinden. Das Kind im Kindersitz ist ein fast gleichberechtigtes Mitglied der Runde. Die Abstände zwischen den Menschen werden intuitiv gestaltet. Die Runde schließt sich hierdurch. Die Menschen haben sich zueinander ausgerichtet.
Alle müssen sich bewegen
Die Runde um den Tisch ist geschlossen. Die Gesichter sind zur Mitte gerichtet. Die Blicke der Menschen kreuzen sich über dem Tisch. Nach außen zeigen die Menschen ihre Rücken. Das Signal ist: wir sind eine Gemeinschaft. Um jemand Neues in die Runde zu lassen, müssen sich alle bewegen. Alle Stühle müssen verrückt werden, um die Runde zu erweitern. Die Abstände untereinander verändern sich. Verlässt jemand die Tischrunde ändert sich die Abstände erneut. Die Zurückbleibenden müssen sich neu sortieren, eventuell ihr Gesprächsthema anpassen.
Wenn man zusammen am Tisch speist, erzählt oder diskutiert, erzeugt es Unwohlsein, wenn man die Namen der Menschen in der Runde nicht kennt. Unwillkürlich meidet man die Person, die man nicht kennt. Vielleicht betrachtet man sie verstohlen. Mutige richten das Wort an die in dem Moment für sie noch Namenlose.
Vorbereiten des Ortes der Begegnung
Häufig gibt man sich Mühe, um den Ort der Begegnung, den Tisch vorzubereiten für die Begegnung. Man säubert den Tisch, manchmal bedeckt man ihn mit einem Tuch. Man stellt Geschirr, Besteck, Gläser und Servietten auf den Tisch. Betreten die Gäste den Raum, in dem der Tisch gedeckt ist, hört man häufig „ah“ und „oh“. Die Gäste fühlen sich willkommen. Deckt man den Tisch gemeinsam mit einem Menschen, der auch später am Tisch sitzen wird, hat man schon die Begegnung begonnen, die beim gemeinsamen Platznehmen und der gemeinsamen Zeit am Tisch fortgesetzt wird.
Die Runde muss sich öffnen, um die Beobachtung zu erlauben
Steht man außerhalb der Tischrunde, zum Beispiel mit einem Fotoapparat, sieht man Menschen sowohl in ihre Gesichter als auch auf ihre Rücken. Nie wird man alle Menschen so fotografieren können, dass sie gleichberechtigt zu sehen sind. Es gibt keine Position für die Photolinse, alle Menschen aus der Runde gleich auf ein Photo zu bannen. Die Linse blickt den Menschen ins Gesicht, sieht sie von der Seite, sieht sie von hinten. Man muss die Runde stören, um alle Gesichter auf das Photo zu bekommen. Einige Menschen müssen sich verrenken, um ihr Gesicht sichtbar für die Photografie zu machen. Es entsteht Unruhe, wenn jemand fotografieren will. Wenn alle mit allen in Kontakt sind, ist eine photografische Abbildung nicht möglich. Irgendjemand fehlt immer. Nicht einmal von oben kann man die Menschen während ihres Austausch abbilden, man sieht die Köpfe nur von oben. Keine Panoramaaufnahme der Tischrunde würde das Gespräch zwischen den Menschen nachvollziehbar machen. Der Austausch der Tischrunde ist exklusiv und nicht abbildbar in ihrem Tun. Könnte dies auch ein nötiger und gewünschter Schutz sein?
Begegnungen
Es ist die Vorstellung, was ein großer Tisch mit Stühlen in einer Wohnung, einem Haus einem Anwesen alles erlebt hat, die mich ergreift. Erinnerungen, die nicht meine sind, können aufsteigen angesichts der Tische mit ihren Stühlen. Wieviele Begegnungen hat der Tisch erlebt? Wie sind die Begegnungen verlaufen? Hat man sich am Tisch erzählt oder gestritten, hat man diskutiert? War es harmonisch oder feindselig? Wie ist man auseinander gegangen? Will man wieder zu diesem Tisch zurückkommen? Unbeantwortbare Fragen. Was hat der Tisch geleistet? Diese Frage kann beantwortet werden. Der Tisch hat Begegnung gestiftet.
CATHERINA STAUCH
PHOTO CATHERINA STAUCH