Menschen geben Energie
Wir befinden uns im November 2024. Man sollte nicht zum Fenster hinausschauen. Wie zu erwarten ist es draußen grau, regnerisch und stürmisch. Aber es geht noch schlimmer. Der November 2022 war noch schlimmer. Wir kamen aus der Pandemie. Das Leben in der Pandemie war nicht nichts. Aber es hatte eine Tendenz in Richtung nichts. Es gab so viele Nichts:Nicht in die Schule gehen dürfen, nicht FreundInnen sehen können, nicht in die Vorlesung gehen dürfen, nicht zu Erstsemesterfeiern gehen können, nicht zu Besprechungen gehen dürfen, nicht essen gehen können, nicht in die Kneipe gehen dürfen, nicht zu Versammlungen gehen können, nicht in öffentliche Verkehrsmittel gehen, nicht in der Gruppe spazieren gehen sollen, nicht die Kranken im Krankenhaus besuchen dürfen, nicht die Alten in den Seniorenheimen sehen können, nicht zu Beerdigungen gehen dürfen. Die Zahl der „Nichts“ hörte nicht auf.
Leben vom Bestand, leben in Kacheln
Wir lebten vom Bestand in der Pandemie. Vom Bestand an Freunden und Freundinnen, vom Bestand an Kolleginnen und Kollegen, mit denen man den Kontakt aufrecht erhalten konnte über Virtualität. Neue Lebensabschnitte zu beginnen war fast unmöglich. Man konnte keine neuen Freunde gewinnen, keine gleichgesinnten KommilitonInnen im ersten Semester an der Universität kennenlernen, man konnte keine Geburtstagsfeiern abhalten, keine Abiturfeiern organisieren, kein Vereinsleben gestalten. Hatten die Menschen keine Freundschaften in ihrem Leben vor der Pandemie, konnten sie keine während der Pandemie aufbauen. In der Übergangssituation von Schule zur Ausbildung oder zum Studium existierte nichts. Es gab keine Perspektive. Bestenfalls gab es ein Leben im virtuellen Kachelmodus. Die Kacheln wurden beliefert vom Bestand der vorpandemisch bestehenden Kontakte. Es blieb nur der Besuch des Supermarktes, um Menschen zu treffen.
Ein erster Ausflug nach der Pandemie
Der erste Ausflug führte uns nach Ostfriesland an die Nordsee. Wir fahren auf der deutschen Seite der Ems in Richtung niedersächsische Küste. Ein Blick aus dem Auto und man hat den Himmel und das flache Land gesehen. Der nächste Blick zeigt nichts anderes. Himmel und braune Felder ohne Hecken, Bäume oder Baumgruppen um Häuser. Die Ebene zwischen Ems und Aurich, zwischen Norden und Emden ist ereignislos für die Augen und das Gemüt. Nur Lingen mit seinem Schornstein des ehemaligen AkW erhebt sich rechts der Autobahn.
Ein kleines Hotel hinter dem Deich bot kurzfristig Unterkunft. Ein hoffnungsvoller Aufstieg auf den 8 Meter hohen Deich bot dem neugierigen Blick das graubraune Wattenmeer. Der Blick nach links zeigte den geteerter Deich in Richtung des kleinen Ortes Greetsiel. Der Blick nach rechts zeigte den geteerten Deich in Richtung der Stadt Norden. Keine Dünen, keine Strandkörbe. Wellenbrecher auf dem Störtebeker Deich. Gelegentlich sah man Hinweise auf die Finanzierung des Küstenschutz durch die Europäische Union. Es gab Hinweise auf die Priele im Wattenmeer, auf die Moore und sumpfige Flächen, genannt Fehne. Markierungen auf den Straßen für den Regionalsport Bosseln. Niemand bosselte. Bei Windstille war gutes Fahrradfahren auf dem Deich möglich. Was sahen wir hierbei? Weite, Weite Weite. Nach jahrelangem pandemischen Nichts will ich keine Weite. Ich will Menschen sehen.
Bitte Menschen, zeigt Euch
Die Suche nach Leben in den kleinen Städten des Emslandes war erfolglos. Anfang November gibt es kaum noch Restauration. Es gibt keine Menschen in Strandkörben, keine Sandburgen bauende Familien, keine belebten Cafes, kaum Surfer. Die Augen und das Gemüt nahmen wahr: braune Felder, graubraunes Wattenmeer, graue Asphaltdecke der Deiche. Alles nicht das Richtige nach der Zeit des Nichts. Aber: in Greetsiel bewegten sich Menschen zwischen den spärlichen Sonnenstrahlen, sie leckten ihr Eis, aßen Krabben, staunten über die alten Kutter. Aufatmen, es gibt sie noch. Die Menschengruppen, die sich treiben lassen, es sich gut gehen lassen. Sie senden als mir unbekannte Gruppe Schwingungen aus, die ich empfange, ohne diese Menschen zu kennen.
Zurück im Hotel hinter dem Deich hatten wir mehr Energie. Wir hatten die Anwesenheit von Menschen erlebt. Erstaunt stellte ich fest, dass ich mich auch auf Menschen freue, die ich nicht kenne. Ich freue mich auf Menschen, deren Schwingungen ich empfange im Supermarkt, in der Straßenbahn, in der Fußgängerzone, im Imbiss. Sie haben eine Bedeutung, ohne dass ich diese Menschen kenne. Wir Menschen brauchen uns, auch wenn wir uns nicht kennen.
CATHERINA STAUCH
PHOTO CATHERINA STAUCH