Doppelleben mit Weinglas

Weingläser haben Stil und sie haben einen Stiel. Der Anblick eines Weinglases versetzt einen in eine abwartende Haltung. Welcher Geschmack erwartet mich, wenn ich aus dem gestielten Glas trinke? Wie sieht das Getränk aus und was verheißt es? Das Weinglas muss etwas vorsichtiger als das Wasserglas ergriffen werden. Der Mund nähert sich mit Bedacht. Wein mit hoch erhobener Hand und zurückgelegtem Kopf zu trinken ist lächerlich. Das ist eine Körperhaltung zur Löschung des Durstes. Den Inhalt im Weinglas schmecke ich – mit Erwartung, mit Langsamkeit und ohne Durst.

Es gibt eine Serie von Gläsern, die zwei Stiele hat. Die Bauchigkeit des zweistieligen Glases soll dem Rotwein seine Entfaltung ermöglichen. Zwei Stiele fassen sich anders an. Sie sind wie ein Säulenpaar mit etwas mehr Stabilität als die gängigen einstieligen Weingläser. Nie zuvor hatte ich ein solches Glas gesehen. Es zeigt Symmetrie. Symmetrie zu betrachten ist wohltuend und beruhigt.

Ich hatte zwei dieser Gläser. Ich habe die Gläser über die Jahre gegen Umzüge verteidigt. Ich habe nicht aus ihnen getrunken. Aber sie waren dabei. Sie bekamen immer wieder ihren Platz im Schrank. Irgendetwas habe ich verteidigt. Ich habe eine Erinnerung verteidigt. Eine Erinnerung an die Idee der Zweisamkeit, der Wärme, des Auflösens der Gedanken in der Wärme, die die Farbe des Rotweins spendet.

Es war die Idee einer Auszeit von den Pflichten des Aktivismus. Die Gedanken an die Pflicht, für Gerechtigkeit in allen Lebensbereichen zu kämpfen. Die Pflicht, meinen Beruf ordentlich auszuüben, die Verpflichtung mich selbst am Leben zu halten ohne anderen zur Last zu fallen.

Es war etwas besonderes, sich zwei teure Weingläser für roten Wein zu kaufen. Für ein ästhetisches Anliegen Geld auszugeben war nicht vorgesehen im Leben einer Aktivistin. Darf es einem gutgehen, wenn die Welt am Abgrund steht? Darf man es sich schön machen im eigenen Leben? Fragen einer 30-Jährigen. Man war aktiv in der alternativen Szene der 80-ziger Jahre. Ich hielt nicht inne und trank Rotwein. Ich war getrieben. Und dann kam diese Einladung in die Wärme. Es war nicht vorgesehen, sich in Wärme hineinzubegeben. Immerhin habe ich dieses Angebot bemerkt. Ich hatte das Angebot, mich zu zweit in dieser Wärme aus Rot und Ruhe aufzuhalten. Rotwein ist etwas anderes als der putschende Sekt, oder der belebende Weißwein. Rotwein ist anders als Whiskey, Cocktails, Ouzo oder Softdrinks.

Rotwein ist eine Einladung in eine Verlangsamung. Verlangsamung bedeutet Stabilisierung. Es war ein Angebot, auszutreten aus der aktivistischen, basisdemokratischen Unruhe mit den unerreichbaren Zielen, und einzutreten in eine Wolke, in einen anderen Lebensstil einzutreten. Oder auch nur eine Pause zu machen. Ich kam aus dieser aktivistischen Unruhe. Beides zu leben kam mir nicht in den Sinn.

Auch andere kannten dieses Gefühl. Nach dem Mauerfall kamen ärztliche Kollegen zu Besuch aus Brandenburg. Einer von ihnen sagte, er bedaure den Verlust des gemeinsamen Rotweintrinkens. Man hätte zu DDR-Zeiten in der Küche gesessen, Rotwein getrunken und geredet. Seit die Mauer auf sei, trinke man nicht mehr zusammen Rotwein in der Küche. Die Küche hatte Schutz und Wärme vor dem Regime geboten. Der Kollege beschwor eine Zeit des Rückzuges und des Gefühls des Zusammengehörens. Man war verbunden durch den Akt des Rotweintrinkens.

Ich hatte zwei Gläser mit je zwei Stielen. Eines ist auf Holzboden zerschellt. Ich habe nur noch ein Glas mit zwei Stielen. Ich sehe es und erinnere mich. Das Glas, mit seiner Symmetrie, die an antike Säulenpaare erinnert. Die zwei Säulen des Weinglases suggerieren mir Gleichgewicht zwischen Außen und Innen, zwischen Aktivismus und Privatleben, einen Lebenstil. Vielleicht ist die heutige Entsprechung der Begriff  „Resilienz“.