Der weltberühmte, weiße Marmor wird in Carrara abgebaut. KunsthistorikerInnen, MuseumsgängerInnen und BaumarktnutzerInnen, also fast alle Menschen kennen diesen weißen Marmor. Aber wer kennt eigentlich diese Stadt? Man kann es nicht glauben, wenn man
durch die derzeit 60 000 EinwohnerInnen zählende Stadt schlendert. Diese berühmte Stadt müsste doch voller Touristen und Touristinnen sein. Aber es ist keine Spur von Massentourismus oder gar Übertourismus zu sehen.
Es gibt eine gepflegte Fußgängerzone mit einigen Bars und wenigen Geschäften. Mit Mühe findet man den Dom. Auf der Piazza Gramsci tummeln sich in einer Bar mit Außensitzplätzen einige wenige StudentInnen, die vermutlich an der gegenüber liegenden Kunstakademie, einem trutzigen, zinnenbewehrten Bau, studieren. Man kann den kleinen Fluss Carrione überqueren und sieht verwahrloste Rückansichten von Häusern, die über dem steinigen Bachbett hängen. Achtlos geht man an massiven Marmorblöcken vorbei, die Teil der Brücken über den Carrione sind. Manchmal ist das Wasser des Flusses weiß gefärbt von dem Marmorpulver, das in den Abbaugebieten entsteht. Schön renovierte Fassaden mit kleinen Balkonen zum Beispiel an der Nordseite der Piazza Gramsci lassen das Wunschbild eines rundum schönen Carrara entstehen. Folgt der Blick den Straßen in Richtung Osten stößt dieser auf die Berge. Weiße, flächige Dreiecke zeigen mit ihren spitzen Winkeln in Richtung Tal. Kurz stutzt man. Gletscher? Sofort korrigiert man sich selbst. Es sind die Geröllhalden des Abbaus des weißen Marmors.
Die Achsen zwischen Bergen und Meer
Die gerade und breite Straße des 20. Septembers verbindet Carrara mit Marina di Carrara, dem Hafen. Auf dieser Achse landet man, wenn man von der Autobahn kommt. Mit offenem Mund schaut man auf die Lastwagen, die mit riesigen akkurat geschnittenen Marmorblöcken vorbeidonnern. Das Gewicht dieser Marmorblöcke soll circa 20 Tonnen betragen. Diese LKW fahren in die apuanischen Berge, holen den Marmor und rutschen nicht die Abhänge herunter, fragt man sich? Bei einer Tour in den Abbaugebieten wurde erklärt, dass Regen die mit Marmorpulver überzogenen steilen Straßen zu gefährlichen Rutschbahnen macht. Der Marmorabbau und -transport war immer und ist immer noch ein gefährliches Unterfangen. Fährt man auf der Via Aurelia zwischen Carrara und Marina di Carrara durch den Ortsteil Avenza in Richtung Süden zeigen sich rechts und links große Gelände mit Marmor in vielen Formen. Aufrecht wie Bilder in einem Ständer stehen die dünnen, bearbeiteten Platten aus Marmor so, als ob man sie einfach umblättern könnte. Skulpturen nach antiken Vorbildern und unverarbeitete Blöcke aus weißem Marmor werden gut sichtbar gelagert. Bei diesem Gewicht, ist es eher unwahrscheinlich, dass diese unbezahlt in einen Kofferraum geladen werden.
Diffuso bedeutet verstreut
Die schönen alten Städte in Italien haben kleine Gassen und kleine Häuser. Ein großes Hotel lässt sich hieraus nicht machen. So wurden zum Beispiel im süditalienischen Bundesland Apulien die sogenannten alberghi diffusi erfunden. TouristInnen schlafen in einem kleinen Haus einer Altstadt. Sie frühstücken oder essen in einem anderen kleinen Haus einer Altstadt. 2021 wurden die musei diffusi von Florenz aus initiiert. Die sogenannten „uffizi diffusi“ präsentieren die Werke der Uffizien dezentral an verschiedenen Orten in der Toskana.
Und in Carrara gibt es eine mostra diffusa. Es ist eine Ausstellung an verschiedenen Orten, sowohl unter freiem Himmel als auch in Läden mit großen Schaufenstern: das „white Carrara“ mit dem Untertitel „design is back“. Zum 8. Mal findet diese Ausstellung statt (14. Juni bis 29. September 2024). Insbesondere auf dem größten Platz des Ortes, der piazza alberica finden sich große Marmorblöcke, auf denen Skulpturen ausgestellt waren. Das Konzept besteht darin, dass eine Firma des Ortes den Block und eine andere Firma das Marmormaterial mit den Arbeitswerkzeugen für die Künstler und Künsterinnen zur Verfügung stellt, um die Marmorskulpturen zu fertigen. Unter freiem Himmel ist die Kanne aus der Plissee Sammlung von Alessi (Michele de Lucchi), der Korkenzieher Anna G. ebenfalls von Alessi (Alessandro Mendini 1994) sowie der Panda, als Symbol für die bedrohte Natur von Elena Salmistraro zu sehen.
In den Räumen der mostra diffusa werden zahlreiche Gebrauchsgegenstände wie Buchstützen oder Lampen gezeigt. Die Firma „Gamlux“ zeigt umwerfende Lampen. Wie Antonio Leone erklärt, nutze er Marmorreste, um Lampen herzustellen. Die Technik hierfür muss ausgetüftelt werden. Seine Lampen bestehen häufig aus beweglichen Teilen, die zu- und aufgeklappt werden können. Die Marmorscheiben sind so dünn geschnitten, dass Licht durchdringen kann. Der Stein zeigt dann Schlieren, Kreuzungen der Linien in spitzen Winkeln, in weiten Winkeln und flächige Färbungen. Ein „Aura“ genanntes Lampenobjekt besteht aus 8 Rechtecken, die auf ihrer schmalen Seite auf einer runden Platte von circa 20 cm Durchmesser befestigt sind. Wie eine Blume können die Rechtecke auf- und zugeklappt werden. Diese Lampenobjekte sind fordernd. Sie fordern 360 Grad Raum um sich. Sie fordern einen gewissen Abstand des Blickes. Nur so kann man ihre Wirkung erfassen. Die Verbindung von Material, reduzierter kantiger Form und marmorweißem Licht sollte isoliert stehen. Wer eines dieser Objekte erwirbt, sollte sich vorher Gedanken machen, ob das künftige Heim der Lampe genügend Raum bieten kann.
Aufstand der Frauen am 7. Juli 1944
Auf der piazza delle erbe ist ein mindestens 40 qm großes Wandgemälde der Partisanin Francesca Rolla zu sehen (Beitragsbild) mit der Inschrift: „Nicht die Stadt verlassen“. Die circa 100 000 Partisaninnen Italiens waren eine wichtige Säule der Widerstandskampfes gegen die deutschen Besatzer. Mit ihren Fahrrädern und ihren Kenntnissen der Berge bildeten sie wichtige Verbindungsstaffetten zwischen den Einheiten der Partisanen, um Informationen, Waffen und Lebensmittel zu transportieren. Sie waren beteiligt an dem Aufstand der Frauen am 7. Juli 1944, als die deutschen Besatzer Carrara räumen lassen wollten, um die Bewohnerinnen in Herden in die Berge zu treiben. Angeführt von den Partisaninnen marschierten die Frauen Carraras zu den deutschen Befehlshabern und verhandelten mit ihnen. Drei Tage später kapitulierten die deutschen Machthaber vor der entschlossenen Menge und verzichteten auf die Evakuierung. Zum Gedenken ist eine Straße Via 7. Giulio benannt worden. Vor dem Rathaus ist ein Marmorrelief zum Aufstand der Frauen zu sehen.
Kreative Stadt
Seit 2017 ist Carrara gelistet im Unesco Netzwerk Kreativer Städte. Dieses Netzwerk verpflichtet sich den 17 Nachhaltigkeitszielen der UNO Agenda 2030. Die Städte sind gehalten, bei der Entwicklung der urbanen Zukunft Netzwerke aufzubauen und Ideen sowie Techniken auszutauschen, um die urbane Zukunft lebenswert zu machen. 2024 gibt es nach Angaben des UNESCO Büros in Bonn 350 Städte weltweit, die diesem Netzwerk angeschlossen sind. Carrara gehört dort rein mit seinem Können im Abbau und der Bearbeitung des Marmors. Carrara hat viel Können zu vermitteln. Sie hat eine Partnerstadt in Deutschland, nämlich Ingolstadt in Bayern. Weltweit müssten die Städte Schlange stehen, um ebenfalls Partnerstadt dieser historisch interessanten und schönen Stadt zu werden.
CATHERINA STAUCH
PHOTO CATHERINA STAUCH: Die Lampe im Text heißt IRIS. Das Photo wurde von Antonio Leone (Firma Bruno Lucchetti Marmo) genehmigt.
Quellen:
www.platformarchitecture.it
www.whitecarrara.it
www.gamluxpietradiluce.it
Film: Geschenkt wurde uns nichts von Eric Esser
https://www.unesco.de/orte/creative-cities/aufgaben-und-ziele