Ansichten und Analysen – Alltag in Europa

Ich könnte weinen…

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sagte ein Freund aus Kassel zum neuesten Skandal der Dokumenta fifteen. Am 9. Juli hatte er aus der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeine erfahren, dass die international bekannte, deutsche Medienkünstlerin Hito Steierl ihre Kunst aus dem Naturkundemuseum Ottoneum abbauen lassen wollte.

Viel Frust hatte sich schon angehäuft bei den dokumentabegeisterten KasselerInnen. Das äußerst detailreiche Bild „People`s Justice“ mit über 100 dargestellten Personen der indonesischen Gruppe Taring Padi musste aus dem Zentrum der Stadt entfernt werden. Der Vorwurf lautet Antisemitismus. Die queeren Personen, die im Party Office das Bunte des Lebens feiern wollten, wurden im öffentlichen Raum belästigt. Ein Protagonist,  Joey Cannizzaro, verlässt Kassel, da die Stadt zu gefährlich für ihn und seinesgleichen sei. Ich habe mich auf den Weg nach Kassel gemacht und die Dokumenta 15 besucht.

Die dokumenta 15 zeigt Ergebnisse von Prozessen

Nur mäßig vorgebildet über die Absichten der OrganisatorInnen der Dokumenta 15 spaziere ich wohlgelaunt in das Friedericianum. Ich sehe große, genähte Wandteppiche einer Romagruppe, ich folge einem Film über jesidische Musik, ich lasse den Schriftzug „White lies matter“ wirken. Ich bleibe stehen und überlege mir, wie Gruppen diese Werke geschaffen habe und versuche mir vorzustellen, was für menschliche Interaktionen sich in der Gruppe abgespielt haben könnten während des Enstehungsprozesse. Ich versuche meiner Imagination Zeit zu geben und setzte mich hierzu auf eine der vielen Sitzangebote. Ich begebe mich aus den Innenräume in die Freiluftausstellungen.  Die offene Küche der Britto Arts Trust aus Bangladesch führt zur Vorstellung von gemeinsam in der Küche arbeitenden Menschen mit ihren Gesprächen. Die Installation der Gruppe Nest Collective aus Kenya  „back to sender“ erschüttert damit, dass der Müll aus Industrieländern unsichtbar für die Müllproduzenten gemacht wird und über-sichtbar in den afrikanischen Empfangsländern wird.  Deutschland nimmt den Müll aus Afrika nicht zurück, führt unsere Sobat (indonesisch für GefährtIn oder FreundIn – hier Dokumentaführerin) aus. „Back to sender“ ist nicht möglich.

Die BesucherInnen bekommen eine Aufgabe

Hat man die Einleitung des Begleitheftes über Lumbung, die Arbeitsweise des Kollektivs gelesen, kennt man die Aufgabe, die den BesucherInnen gestellt wird. Man überlegt, wie im Vorfeld der Werksentstehung diskutiert wurde, wie debattiert wurde, wie Streits und Einigungsprozesse ausgetragen wurden.  Es scheint nicht darum zu gehen, das Dargestellte ästhetisch zu beurteilen, sondern sich vorzustellen, welches menschliche Miteinander zu den präsentierten Werken geführt hat. Die Imagination der vorausgegangenen Prozesse in einer Gruppe ist das Anstrengende dieser Dokumenta. Man sieht Kritzeleien an den Wänden mit Pfeilen, Kreisen,  Kreuzungen der Richtungen. Vieles ist kleinteilig und erinnert an Kommunikationskurse in Betrieben oder im Sozialwesen. Was hat die haitianischen KünstlerInnen zu den Metallmenschen inspiriert? Welche Menschen kamen zu dem Schluss, dass die überdimensionierten Phalli wichtig sind als Ausdruck eines kollektiven Prozesses?  Was hat die haitianischen KünstlerInnen zu den Skulpturen mit Gelatinekapseln gebracht? Man überlegt, was überlegt wurde.

Der Verortung der Skandale

Verfolgt man einige Medien, liest und sieht man kaum einen Beitrag über die Ausstellung. Die Artikel und Beiträge hangeln sich von einem Skandal zum anderen. Man fragt sich, wie man soviel schreiben kann, wenn man die Dokumenta nicht selbst besucht hat. Es fehlen die Äußerungen der Kasseler Bürgerinnen und Bürger.

Machtwort aus Berlin?

Die Gesellschafter der gGmbH der Dokumenta sind die Stadt Kassel und das Land Hessen. Im Aufsichtsrat sitzen drei Stadtverordnete der Stadt Kassel, die Kulturdezernentin von Kassel und eine Abgeordnete des Hessischen Landtages, auch eine gebürtige Kasselerin. Haben diese Kollektive keine Idee, wie mit den verschiedenen Skandalen in ihrer Stadt umgegangen werden kann? Haben sie kein Interesse, Kassel lumbungfähig zu machen und selbstkritisch und selbstbewusst aus dem Schlamassel hervorzugehen? Vielleicht wartet man auf ein Machtwort aus Berlin. Was das für die Freiheit der Kunst bedeuten könnte, mag man sich nicht ausmalen.

Man kann noch was tun bis zum 25. September 2022

Man hat den Eindruck, dass die Dokumenta 15 an ihrer Größe scheitert. Zuviele Veranstaltungsorte, zuviele Kollektive, unklare Organisationsstruktur. Das Motto Lumbung beinhaltet das Thema „kollektive Prozesse“. Als die Skandale der Dokumenta 15 anfingen, hätte lumbungmäßig eine offene Diskussion über die Inhalte begonnen werden müssen. Man hätte das jetzt abgehängte Bild People`s Justice analysieren müssen und hieraus Handlungen folgen lassen sollen. Wenn Menschen aus dem größten muslimischen Staat der Welt, Indonesien, also die Gruppe Ruan Grupa sich nicht sehr gut auskennen mit Antisemitismus in Deutschland, wäre das eine Diskussion wert gewesen. Der Kampf der IndonesierInnen gegen den Kolonialismus und die folgenden Diktatur in Bezug auf den Antisemitismus in Europa und vor allem Deutschland könnte als Thema resultieren. Meron Mendel, Leiter der Anne Frank Stiftung Frankfurt hatte sich konstruktiv, analytisch und perspektivenreich zu dem Bild geäußert. Man hätte ihn sich gut als Moderator für die Analyse des Bildes vorstellen können. Nun hat er sich zurückgezogen und mit ihm Hito Steierl.

Die Kasseler BürgerInnen könnten ihr eigenes Lumbung machen

Die Lösung steht in der Einleitung des Begleitheft zur Dokumenta 15: „Als konkrete Praxis ist lumbung der Ausgangspunkt der documenta fifteen: Die Grundsätze Kollektivität, Ressourcenaufbau und gerechte Verteilung stehen im Mittelpunkt der kuratorischen Arbeit und prägen den gesamten Prozess der documenta fifteen.“ Und weiter heißt es: “ Die Documenta fifteen ist keine streng kuratierte Ausstellung, die während der 100 Tage stets dieselbe bleibt. Stattdessen verändern sich die Ausstellungsorte ständig: Sie sind Treffpunkte, Diskussionsforen und Lernorte.“ Und im Handbuch wird vorausschauend geschrieben (S.40): “ Ein großes Format bringt unabsehbare Folgen mit sich. Über die Größenordnung wurde bislang noch nicht hinreichend systematisch nachgedacht.“

Im kollektiven Tagebuch des nordhessischen Autorenpreises schreibt im Beitrag vom 24. Juni ein Kasseler über das Erleben der Schnittstelle Indonesien-Deutschland und die Mühe des Verstehens von Gewalterfahrungen in anderen Kulturen. Und im Beitrag einer Kasselerin vom 27.07.2022 werden Überlegungen zur kollektiven Aufgabe von Erster Hilfe erläutert. Das Kasseler Hugenottenhaus macht anlässlich der Dokumenta ein Projekt zu Erster Hilfe. Die Erste Hilfe braucht die Dokumenta 15 sehr dringend http://www.nordhessischer-autorenpreis.de/tagebuch.html. CS

Photo: Catherina Stauch

 

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