Im Jahr 2020 infiziert das Coronavirus nicht nur Menschen. Das Virus infiziert auch Bürgerbewegungen mit Energie und Wut.
Die Coronakrise, die weltweite schlechte Wirtschaftslage und die polizeilich Gewalt gegen Bürgerinnen und Bürger in den USA haben Bürgerbewegungen weltweit aktiviert oder reaktiviert, sodass sie derzeit unüberhörbar und unübersehbar sind. Die „Black Lives Matter“ Bewegung ist auf den Straßen. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Kolonialisierung und dem Sklavenhandel, der unverarbeiteten Vergangenheit und des nicht in Frage gestellten geistigen und strukturellen Fortlebens der „Weißen Überlegenheit“, englisch „white supremacy“ treiben auch AktivistInnen in anderen Ländern auf die Straße. In Bristol kippten am 7. Juni Antirassismusdemonstranten die Bronzestatue von Edward Colston (1636-1771) vom Sockel, rollten sie durch die Stadt und schließlich in das Hafenbecken. Colston wird eine bedeutende Rolle im Sklavenhandel zugeschrieben. Am 9. Juni gehen in Oxford/Großbritannien Menschen auf die Straße und protestieren gegen den Verbleib der Statue von Cecil Rhodes (1853-1902) auf einem Universitätscampus. Rhodes war ein Imperialist mit zahlreichen geschäftlichen und politischen Aktivitäten in Afrika und Betreiber der Apartheidpolitik. In Deutschland gibt es etliche Initiativen, die sich mit der Umbenennung von Straßennamen beschäftigen. Straßennamen, die zu Ehren von Menschen vergeben wurden, deren zweifelhafte Vergangenheit heute befremdet. Der Deutschlandfunk bringt eine siebenteilige Reihe mit dem Titel „Orte des Kolonialismus in Deutschland“. In einem der Beiträge wird die Geschichte einer Gedenktafel zu Ehren von gefallenen Kolonialsoldaten thematisiert. Mit der Gedenktafel werden die deutschen Soldaten in den Kolonien geehrt. Der Opfer dieser Kolonialisierung wird hier nicht gedacht.
Koloniale Vergangenheit im öffentlichen Raum
Der Umgang mit der kolonialen Vergangenheit wird in vielen Ländern immer mehr zum Thema der Straße. Auf den Straßen stehen die Gedenktafeln und Skulpturen häufig mit Kommentaren versehen, die aus der Zeit des Kolonialismus stammen. Es gibt keine Verweise auf ein verändertes Menschenbild, veränderte Staatsformen und seitdem erkämpfte verbriefte Rechte aller Menschen auch in den ehemaligen Kolonien. Unkommentierte Darstellungen von Rassisten, Kolonialherren, Imperialisten, Menschenhändler im öffentlichen Raum empört viele Menschen.
Umgang mit Gedenken im öffentlichen Raum
Im öffentlichen Raum finden sich auch monumentale Denkmäler für die Opfer von Kriegen, meist der Weltkriege des 20. Jahrhunderts. In dem circa 700 Einwohner zählenden Streudorf Keeken bei Kleve, unweit der niederländischen Grenze findet man an einer Wegekreuzung ein monumentales, dreiteiliges Denkmal. Das Denkmal lässt in seiner Größe und Monumentalität sofort an einen Triumpfbogen denken. Es trägt mittig und zuoberst die Inschrift „Die Gemeinde Keeken ihren gefallenen Söhnen“. In linken Drittel liest man „Es starben den Heldentod“. Die zehn darunter stehenden Namen sind männlich und haben Todesdaten zwischen 1914 und 1918. In mittleren Drittel des Monuments liest man „Im Zweiten Weltkrieg starben fürs Vaterland“. Angrenzend im Innenraum sind die Todesdaten zwischen 1944 und 1945 zu lesen. Auch eine Frau und zwei Kinder werden genannt. Im rechten Drittel liest man „Es starben an den Folgen des Krieges in der Heimat“ mit Todesdaten von 1918 bis 1921.
In der Stadt Kleve findet man in der Oberstadt an der Nordseite der Stiftskirche ein Denkmal von Ewald Mataré (1887-1965), „Toter Krieger“. Die Skulptur wurde 1934 aufgestellt. Die Klever Bürger wollten ein Mahnmal für die im ersten Weltkrieg gestorbenen Soldaten. Die Skulptur stellt einen Soldaten dar. Der Soldat ist starr und steif, er liegt. Er liegt mit überstreckten verdrehtem Kopf. Der Körper drückt Starre aus und hat nichts heldenhaftes. Mataré hatte eine Vertiefung in die Brust der Skulptur eingebracht, in der er auf einem Blatt Papier die Namen der gefallenen Soldaten aus Kleve aufgeschrieben hatte.
Wahrnehmung im öffentlichen Raum
Protestierende und DemonstrantInnen gegen das Denken und Handeln des Prinzips der „white supremacy“ versammeln sich im öffentlichen Raum. Statuen und Denkmäler aus dem öffentlichen Raum als Symbol für Sklavenhandel umzustürzen und in ein Hafenbecken zu kippen kann als symbolisches Handeln gegen das Fortleben der unkritischen Wahrnehmung der Geschichte der „white supremacy“ gesehen werden. Ein Verschwindenlassen der Objekte und ein dadurch befördertes Vergessen kann nicht die Lösung sein. Die Aufarbeitung der Geschichte muss weitergehen. Eine Gedenktafel oder Denkmal zum sogenannten Heldentod unkommentiert zu lassen, erzeugt Unbehagen und lässt die seitdem erkämpften Veränderungen unbeachtet. Was denken Menschen, wenn sie die Gedenktafeln zum „Heldentod“, zum „Tod für das Vaterland“ oder zur „Dankbarkeit gegenüber den gefallen Soldaten“ lesen? Wass denkt man, wenn man die Soldatenfriedhöfe mit tausenden Namen junger Männer liest? Denkt man an die ungelebten Leben dieser Männer? Denkt man in Dankbarkeit an diese Tode, denkt man dass diese Tode Sinn gemacht haben? Oder denkt man daran, wieviel Macht Menschen über Menschen haben können, dass sie diese jungen Menschen zu Kanonenfutter machen konnten? Dass sie Helden waren, tröstet heute wohl kaum jemanden. Der sogenannte „Heldentod“ kann nicht unkommentiert bleiben in hart erkämpften Demokratien.
Dekolonisation des Denkens und Gedenkens
Das veränderte Denken fordert eine andere Darstellung im öffentlichen Raum. Denkmäler zu Rassismus, Kolonialismus, zu Ideologien von Diktaturen unsichtbar zu machen führt nicht zu einem besseren Verständnis für die Veränderungen im Denken und Handeln als Basis der heutigen demokratischen Staatsformen. Die Darstellung des soldatischen Heldentums und die Ambiguität eines philantropischen Sklavenhändlers sollte Anlass geben für kritische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit. Für den Wandel des Denkens und der politischen Systeme braucht es einen Ausdruck auch im öffentlichen Raum.
Denkmäler im öffentlichen Raum belassen oder in ein Museum geben
Es gibt viele Vorschläge zum Umgang mit Denkmälern aus der vordemokratischen Zeit. Grundsätzlich muss überlegt werden, ob die Denkmäler in ein Museum wandern und somit aus dem öffentlichen Raum genommen werden. Im Museum können sie in den aktuellen geschichtlichen Kontext gesetzt werden, sind jedoch einer größeren Öffentlichkeit entzogen. Denkmäler aus der Zeit von Gewaltherrschaften können im öffentlichen Raum bleiben, sollten jedoch kommentiert werden. Hierfür gibt es viele Vorschläge. Es wird vorgeschlagen, sie zu zersägen, neu aufzustellen und mit einem erklärenden Kommentar zu versehen. Man könnte die Statuen auf den Kopf stellen. Man könnte neben die Gedenktafel für die gefallenen Kolonialsoldaten eine weitere Gedenktafel hängen mit zum Gedenken an das verübte Unrecht in den ehemaligen Kolonien. Und man könnte den „Toten Krieger“ von Ewald Mataré als Kopie oder Skulptur mit ähnlichem kritischen Inhalt dem Triumphbogendenkmal im Dorf Keeken zur Seite stellen. Matarés „Toter Krieger“ wurde durch die Nationalsozialisten zerstört. Später wurde er wieder restauriert. Man hätte die Zerstörung durch die Nationalsozialisten sichtbar lassen können und die Bruchstellen als Erinnerung an die Gewaltherrschaft hervorheben können. Der dröhnende Hohn des „Heldsein“ der krepierten Soldaten aus dem Dorf Keeken wäre vielleicht etwas leiser. Ob heutzutage der Heldentod im Graben oder das Sterben für das Vaterland für die Angehörigen ein Trost darstellt, darf bezweifelt werden. Ein sichtbares Gedenken an die Sinnlosigkeit des Sterbens auf den Schlachtfeldern und an die Entmenschlichung in den Kolonien wäre als ein Baustein zur Aufarbeitung der Geschichte besser. Für die Familien dürfte der Heldentod zumindest heute kein Trost mehr sein. Die meisten werden den Tod ihrer männlichen Familienmitglieder in Kriegen als Sinnlosigkeit empfinden.
Perspektive durch Dekolonisation im Erinnern und Gedenken
Der Umgang mit Erinnerungen im öffentlichen Raum, dargestellt durch Statuen, Skulpturen und Gedenktafeln ist derzeit Ziel vieler Bewegungen. Jede Generation hat die Möglichkeit, die Vergangenheit neu zu verstehen und dafür aufzustehen, dass Menschen nie wieder zu Menschenmaterial durch Gewaltherrschaft gemacht werden. Die Dekolonisation im Denken und Handeln ist zum Aufbau einer Perspektive wie zum Beispiel in der „Black lives matter“ Bewegung wichtig. Eine Anerkennung des Unrechts in der Sklavengesellschaft ist nötig, um die Menschen zu versöhnen. Jede Gemeinschaft, jedes Dorf, jede Stadt und jedes Land hat die Möglichkeit, die Änderungen im Bewusstsein zwischen Gewaltherrschaft und Demokratien neu zu bewerten und die Denkmäler und Gedenktafeln im öffentlichen Raum durch Aktionen und neu bewertete Darstellung sichtbar zu machen. CS